Tulpen aus Rotterdam

Lesedauer: etwa 7 Minuten

Glückliche Umstände brachten mich wieder dazu, einen Aufenthalt in Düsseldorf als Ausgangspunkt zu nutzen, um für ein paar Tage weiter nach Westen zu reisen. Leicht angeschlagen vom Vorabend betrat ich also den Zug und gedankenversunken in der Niederrheinischen Heide war das Erste, was ich nach dem Grenzübertritt sah, eine Windmühle. Ich habe mich offenbar nicht verfahren und befinde mich auf direktem Weg in die niederländische Hafenstadt Rotterdam.

Wo sind die Feyenoord Ultras?

Ich bin gespannt und habe doch ein wenig Angst vor der Stadt. Als Kind der 80er und 90er sind mir epische Schlachten zwischen Feyenoord-Fans und Anhängern jeglichen gegnerischen Teams vor Augen, die mein geistiges Bild einer Stadt geprägt haben, die voller Gewalt und Brutalität ist. Um es vorwegzunehmen: Völlig unbegründet. 

Die erste Hürde musste am Bahnhof gemeistert werden. Denn seit ein paar Jahren ist es an größeren niederländischen Stationen üblich, dass der Zu- und Austritt nur mit einem Barcode möglich ist. Das Verhalten anderer Mitreisender beobachtend, ahmte ich es ihnen nach, nestelte das Zugticket aus dem Telefon und hielt es an den Scanner. Nichts geschah. Dieses Spiel spielte ich noch drei Mal, ehe ich mir professionelle Hilfe suchte. Der freundliche Bahnhofsmitarbeiter nahm mein Telefon, tat den gleichen Scanvorgang wie ich und wie von Zauberhand öffnete sich die Schranke und gewährte mir Einlass in die Stadt. Mit einem „That was easy“ betrat ich nun Rotterdamer Boden und erwartete die Aufwartung der Feyenoord-Ultras. Vergeblich.

Vielmehr empfing mich ein erster Stimmungsdämpfer. Auf dem Weg zum Hotel kam ich am Schouwburgplein vorbei, wo tausende Kinderschuhe platziert wurden, welche auf die Gräueltaten gegenüber unschuldigen Kindern in Gaza aufmerksam machten.

Rotterdam

Spektakel auf dem Wasser und mehr …

Mein Hotel befand sich mitten im Zentrum, so dass der erste Weg nach dem Check-in natürlich gen Wasser führte. Und obwohl ich noch nie in Rotterdam war, war mir dieser Weg recht vertraut. Denn die dritte Etappe der diesjährigen Tour de France Femmes führte auf 6,3 Kilometern mitten durch Rotterdam und eben auch über den Hofplein über die Straße Coolsingel zur Erasmusbrücke. Und um mich auf den Trip gut vorbereitet zu wissen als leidenschaftlicher Radsportler schaute ich dieses Zeitfahren natürlich mit großer Begeisterung. Lirum larum.

Die Stadt hat sich fein gemacht und extra ihre 150-Jahr-Feier des Maritim-Museums und den Welthafentag auf meinen Besuch gelegt, an dem „Hunderttausende Besucher während der 47. Ausgabe […] erneut den Rotterdamer Hafen entdecken. Mit besonderen Schiffen, spannenden Ausflügen, Spektakel auf dem Wasser und mehr!

Entsprechend immens war auch das Besucheraufkommen, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Und mittendrin ein staunender Piefke, der immer wieder kurz überlegen muss, auf welcher Seite nun steuer- und backbord ist.

Nach so viel hektischer Betriebsamkeit zu Wasser- und Landwege ließ ich es gediegen angehen und trat den Rückzug an – ich hatte schließlich noch drei Tage vor mir.

Ist der erste Tag stets geprägt von Gespanntheit, Aufregung, Entdeckungsdrang und unkoordiniertem Umhergelaufe setzt am zweiten Tag sofort die Entspannung ein – ich setze die Kopfhörer auf und lasse die Dinge geschehen und wirken.

Rudi Völlerei gegen Frank Rijkaard

Auf der Suche nach einer niederländischen Spezialität war mein erster Weg am nächsten Tag in die Markthal. Neben den üblichen Hipsterspeisen wie mongolischer Poke Bowl im venezolanischen Taco-Bett, Glasnudelsalat mit asiatischen Flusskräutern oder Ozelotkäse-Rucola-Quinoa gab es einen kleinen sympathischen Stand mit einer Art überbackenen Vla im Blätterteig namens „Pastel de nata“. Completamente louco.

Genährt mit so viel traditioneller niederländischer Backware begab ich mich zu einem der Wahrzeichen Rotterdams: Den Kubushäusern, eine Ansammlung von insgesamt 51 Kuben, die zu Wohn- und Geschäftszwecken dienen und nebenbei noch dankbarer Instagram-Spot sind.

Von der Erasmusbrücke aus habe ich am Vortag eine klischeehafte niederländische Wohnsiedlung gesehen. Verklinkerte Fassade, große Fenster, keine Vorhänge, orangene Markisen. Also überquerte ich die zweite große Brücke – die Wilhelmsbrücke – um mir ein genaueres Bild zu machen. Nun ja, bis auf eine klischeehafte niederländische Wohnsiedlung und Sitzgelegenheiten mit halbwitzigen Plaketten („Hier zitten dierenliefhebbers“, „Hier zitten alleenstaanden“, „Hier zitten grootouders“ – Danke DeepL!) gab es auch nicht viel Nennenswertes zu berichten, so dass es nun unabdingbar war, sich dem Nukleus der Rotterdamer Wochenendverlustigung hinzugeben: Welthafentag, ich komme!

Und es wurde alles aufgefahren, was im Hafenbetrieb irgendwie schwimmen und helfen kann. Das reichte vom kleinen Polizei-Jetski, über größere Polizei-Jetskis zu Patrouillenbooten. Vom Löschwasserfahrzeug über Seenotrettungshubschrauber zum Kriegsmarineschiff. Vom Schlepper über Lotsenboote zu Bergungsschiffen. Von Spezialschiffen, die spezielle Spezial-Dinge tun – die gesamte Klaviatur, die im erweiterten Kreis der Hafenschifffahrt etwas zu tun hatte, buhlte um Aufmerksamkeit. Und ich stellte immer wieder erstaunt fest, mit welcher Fantasie der Mensch auf spezielle Bedürfnisse ausgerichtete Maschinen produziert.

Offenkundig offenmundig

Durch die nahezu komplette Zerstörung im Krieg musste die Stadt neu aufgebaut werden und Stadtplaner und Architekten konnten sich – unangemessen flapsig ausgedrückt – austoben. So entstand eine prächtige Silhouette, die den Vergleich mit anderen markanten Stadtprofilen wie London, Warschau oder Paris nicht scheuen muss. Also machte ich mich wie Kevin allein in New York auf, offenkundig offenmundig durch die Schluchten zu waten. Selbst Backsteinhäuser mit Feuertreppen haben sie!

Dass Rotterdam auch anders kann, zeigt sich in Delfshaven – eines der wenigen Viertel, welches über eine intakte Altstadt verfügt – und quasi die Wiege des jetzigen Hafens ist. Im 14. Jahrhundert entstanden, ist es der einzige Stadtteil, der die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs nahezu unbeschadet überstand und diverse Seefahrer sollen hier ihr letztes Bier getrunken haben, bevor sie sich im 17. Jahrhundert in die Neue Welt aufmachten. Ich bekam keins, denn alle Tavernen waren geschlossen. Und außerdem machte ich mich ja auch nicht in die Neue Welt auf.

Zum Besuch des hiesigen Pinball-Museums reichte es ebenfalls nicht, aber dafür ging meine Suche nach den Feyenoord-Ultras weiter in das einstige Problemviertel Schiemond. Doch wie zu erwarten war: Tulpen, Sonnenschein und Möwenjauchzen statt Bengalos, Nebeltöpfen und Schlachtgesängen.

Wie ich halb-enttäuscht am Ufer saß, erspähte ich ein mir aus Antwerpen bekanntes Bauwerk. Eine kurze Google-Maps-Recherche ergab, dass es sich hierbei tatsächlich auch um eine Flussunterquerung handelte. Der Maastunnel. Das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.

Voller Energie – ein 800 kcal schweres Törtchen aus Pandam-Palme lief mir hinterher, als ich an einem Asiahausboot mit integriertem Supermarkt vorbeikam – war ich nun bereit, die Maas zu durchschreiten und wurde mit dem wohl besten Fernblick auf die ufernahe Skyline Rotterdams belohnt.

Und der Traum des Binnenschiffers flammte erneut auf. Wie majestätisch mag es sein, seine Ware im Hafen aufgeladen zu bekommen, in die Mündung der Maas einzubiegen, die erhabene Stadt an sich vorbeiziehen zu lassen und weiter flussaufwärts den Rhein entlangzuschippern? Ernstgemeinte Angebote als Smutje oder niedere Tätigkeiten sind über die im Impressum angegebene E-Mail-Adresse einzureichen. Bis zum Beginn des Jobs hab‘ ich das mit Steuerbord, Backbord, Luv und Lee auch drauf. Versprochen.

Samenvatting (ndl. für „Fazit“)

Nach Antwerpen besuchte ich nun also die nächste Hafenstadt innerhalb kurzer Zeit. Ein Vergleich beider Städte liegt daher nahe, wäre aber unfair. Auf der eine Seite eine historisch gewachsene Stadt mit unfassbar viel Kultur und sichtbarer Geschichte. Auf der anderen Seite eine sich neu erfinden müssende Stadt mit außerordentlicher Vielfalt und Modernität.

Ein geordneter Spaziergang ist daher nahezu unmöglich. Ähnlich wie Manchester entdeckt man an jeder Ecke etwas Neues und verliert sich dort, um am Ende ganz woanders herauszukommen und Dinge gesehen zu haben, derer man sich vorher nicht bewusst war.

Nirgends habe ich in so kurzer Zeit so viele unterschiedliche Speisen probiert. Hier eine asiatische Halal-Chicken-Bowl, dort einen marokkanischen Granatapfel-Spinat-Rucola-Getreide-Smoothie, da ein niederländisches Broodje Haring, hier ein philippinisches Pandan-Palmentörtchen mit einem kolumbianischen Guanábana-Saft und dort noch eine Schale Pommes mit undefinierbarer Soße. Den Schmelztiegel gibt es nicht nur in Rotterdam, sondern mittlerweile auch in meinem Magen.

Und selten habe ich mich in einer Stadt so schnell so abgeholt gefühlt: Sie ist unperfekt, unprätentiös, unfertig, unangepasst. Doch die Welt ist hier zu Hause und lebt hier ihr Leben, wie es ihr gefällt. Hartelijk dank, Rotterdam!

2 Comments

  1. Conny 16. September 2024

    Tja, was soll/kann man schreiben??
    Mal abgesehen von den vielen wundervollen Postkartenfotos ist der Artikel kurzweilig geschrieben. Man fühlt sich mitgenommen.
    Wunderbar, wie immer.

  2. Olaf 16. September 2024

    Dank Markus ein Dank an Rotterdam, was sich für Dich fein gemacht hat und Attraktionen bereithielt.
    Du bis jetzt kundig mit rechts und links in der Seemannssprache, als Kind der 80er und 90er.
    Wieder eine sehr schöne Formulierung Deiner Eindrücke, während des Trips.
    Dankeschön

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