Sündenpfuhl Tbilisi

Lesedauer: etwa 21 Minuten

Seit Jahren steht Tiflis auf der Liste meiner Sehnsuchtsorte. Immer wieder sehe ich Bilder der Stadt, lese Reiseberichte (die Forbes beschrieb es u.a. als die „aufregendste Stadt des Jahres“, vergleichbar mit dem Berlin der 90er Jahren), seufze innerlich, besuche anschließend Flugportale und breche regelmäßig den Kaufvorgang aus unerfindlichen Gründen ab. Doch nun war es endlich soweit: Ich musste raus aus Berlin, brauchte Ablenkung, wollte mir etwas Gutes tun und in einer Übersprungshandlung buchte ich mir endlich ein Ticket. Endlich.

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Zahlen, bitte!

Ich kannte es bereits aus Tirana, dass die Ein- (und ebenfalls auch Aus)reise in ein Nicht-EU-Land mit allerlei Passkontrollen verbunden ist. Auf die Frage des Grenzbeamten „Do you have a passport?“, nachdem ich ihm meinen Personalausweis gab, ahnte ich schon Schlimmes. Schließlich hatten alle um mich herum einen Reisepass vorgelegt. Im Vorfeld las ich jedoch, dass ein guter deutscher Personalausweis in der Regel ausreicht und verzichtete deswegen auf die Mitnahme des Passes. Und so gab es glücklickerweise lediglich ein kurzes Stirnrunzeln und nach einem „It’s your first time in Tbilisi?“ durfte ich mit einem nüchternen „Yep“ ins Land einreisen. Gamarjoba Tbilisi!

Möglicherweise ist mir beim Warten auf das Taxi eine Zigarette aus der Hand gefallen, was einem in der Nähe befindlichen Polizisten zurecht missfiel und er daraufhin meinen Ausweis wollte.

„Ich möchte den Ausweis haben, mit dem Sie eingereist sind! Nicht diese ID Card.“ – „Das ist der Ausweis, mit dem ich eingereist bin.“ zog offenbar Unverständnis auf sich, was den Beamten veranlasste, sich mit meinem Ausweis in sein Dienstfahrzeug zu begeben und eine Tiefenkontrolle durchzuführen. Nun ja, ich bin aus Tel Aviv ja bereits Leid gewohnt. Zwischenzeitlich kam das bestellte Bolt-Taxi und der Fahrer und ich wurden ungeduldig. Er, weil er losfahren wollte. Ich, weil irgendwo in einem Polizeiauto in der Tifliser Nacht mein einziges Ausweisdokument verschwand.

Also ging ich wenig später zum Wagen, machte eine demütige „Qué pasa?“-Geste und bekam wenig später einen Zettel in die Hand gedrückt mit den Worten: „Ihr Deutsche steht doch so auf Regeln. Also befolgt sie auch anderswo. Pass auf dich auf! Ach ja, und du hast 30 Tage Zeit, zu zahlen!“ Gamarjoba Tbilisi!

Und merke dir: Nimm besser einen Reisepass mit. Das erspart dir jede Menge Rückfragen.

Da der Zettel nur auf Mchedruli (die georgische Schrift) geschrieben war und ich diese sowieso nicht lesen konnte, packte ich diesen erstmal in die Hosentasche und mich ins Taxi. Und da bin ich nun, als EU-Gesandter, geografisch eingekeilt zwischen Russland und Iran und zudem des Staates Georgien säumig.

Da störte es mich auch nicht im Geringsten, dass der Taxifahrer irgendwo in einem verwaisten Vorort einen spontanen Zwischenstopp zum Tanken einlegen musste oder wir die Fahrt kurz vor dem Ziel abbrechen mussten, da die Straße wegen der anhaltenden Demonstrationen gesperrt war – eine Situation, die ich in den nächsten Tagen täglich erleben sollte.

Darauf erstmal ein paar Khinkali. Und ich greife vorweg: Ich musste mich zwei Mal beim Essen selbiger blamieren, eh ich antizipiert habe, dass man Khinkali mit der Hand isst und den Hut liegen lässt. Ich gelobe hiermit, es jedem mitzuteilen, der ebenfalls bald nach Georgien reist und diese ebenfalls essen will (und sollte)!

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Angeklagt wegen Umweltdelikten

Ich erwähnte das Missgeschick bei der Einreise. Nachdem ich den Zettel durch Google Translate jagte, wurde ich des Delikts „Umweltverschmutzung mit bis zu 2 kg Siedlungsabfälle“ bezichtigt. Und das völlig zurecht!

Die Worte des Beamten nahm ich also ernst, ging am nächsten Tag meinem Wohlgehorsam nach und somit war der erste Weg zur Deutschen Botschaft. Ja, zur Botschaft. Die Kanone auf den Spatz. Nein, Quatsch. Die Dependence ist nicht weit von meinem Apartment weg und bevor ich wild google, was ich wie wohin zahlen soll, wollte ich mir von Menschen helfen lassen, die sich damit auskennen und meine Sprache sprechen.

Dort angekommen machte mir die georgische Pförtnerin klar, dass ich beim Konsulat für Rechts- und Konsulatsangelegenheiten falsch bin und schickte mich um die Ecke zur „richtigen“ Botschaft. Der Botschaftsangestellte nahm mein Anliegen mit der nötigen Gelassenheit auf und gab mir einen Zettel mit einer E-Mail-Adresse, wohin ich mich wenden könne. Oder ich solle zu einer Bank gehen, wo man die Strafe bezahlen kann. Anekdotische Randnotiz: Während er mir zuhörte, zog er genüsslich an einer Zigarette, schnippte sie danach auf den Boden und stellte anschließend die Frage: „Weswegen hast du denn überhaupt das Knöllchen bekommen?“. Auf meine Antwort „Weil mir eine Zigarette am Flughafen aus der Hand fiel“ mussten wir beide lachen.

Also ließ ich das Knöllchen erstmal Knöllchen sein, zog weiter und begann mein touristisches Tagwerk.

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Man kennt die Friedensbrücke als den Fotospot Tiflis’ – eine futuristische Brücke über die Kura, die es erst seit 2010 gibt und trotz zahlreicher Kritik mittlerweile der Hauptanziehungspunkt für Touristen ist. Das lockt natürlich auch die Schattenwirtschaft an, so dass sich in der Umgebung zahlreiche windige Personen mit Papageien oder dressierten Affen auf den Schultern und den unsäglichen 360°-Selfievideodings herumtreiben, um eine schnelle Lari zu machen.

Als optisch mies gelaunter und noch ohne Kamera um die Schulter ging ich offenbar als Einheimischer durch und konnte mich zumindest im Gegensatz erkennbarerer Touristen der Anquatschung entziehen. Diesen Vorteil nutzte ich, mich weiter ungestört in Richtung der Festung Nariqala fortzubewegen, die zumindest gemäß des Internets einen guten Blick über die Stadt bieten sollte. Nach durchschnittlich 25% Steigung kam ich keuchend am Fuße der Kirche an und musste feststellen, dass es die Kirche zwar gab, aber der Panoramablick derzeit hinter einem modisch-grünem Bauzaun verborgen blieb.

Also tat ich dort zumindest eine erste Bußgeldbuße, ehe der Blick wieder gen Weltlichem ging: Am Fuße der Kirche sah ich die Kuppeln der berühmten Thermalbäder Abanotubani sowie den Eingang zum Leghvtakevi Canyon. Ich bin kein Freund des Wellness’, also würdigte ich ihnen lediglich eines flüchtigen Blickes und ging weiter in den Schlund des Canyons.

Es schienen bereits einige vor mir dort gewesen zu sein, denn alle Zulieferbrücken waren gesäumt von Liebesschlössern. Und, nun ja, einer gewissen romantischen Stimmung konnte man sich nicht erwehren, als sich am Ende des Canyons ein Wasserfall ergoss und aus dem Quellwasser ein kleines pittoreskes Bächlein formte. Geschenkt, dass sich der Bach zudem aus olfaktorisch fragwürdigem Schwefelwasser der hiesigen Therme speiste.

Doch ich wollte hoch hinaus und mir erstmal einen Überblick verschaffen. Hoch droben über der Stadt thront das Tabor-Kloster der Verklärung. Also machte ich mich auf den Weg dorthin, meine Sünden dort ebenfalls reinzuwaschen.

Der Nachteil von GoogleMaps ist das fehlende Gespür für Höhenmeter. Denn als Strecke dorthin wurden nur zwei Kilometer angegeben, doch es hätte mich stutzig machen sollen, dass die avisierte Route 45 Minuten betrug. Egal, ich hatte die bequemen Schuhe an und wollte schließlich etwas erleben. Also holte ich mir eine Wasserflasche und begann den Aufstieg. Ich stieg über schlafende Hunde, maunzende Katzen, ging durch dunkle Hinterhöfe, lief über fußgängerunfreundliche Landstraßen, ließ mich von LKW-Fahrern anhupen. Doch irgendwann kam der Abzweig zum Kloster. Darauf einen Dujardin in der Hollywood-Schaukel mit dem besten Blick auf die Stadt.

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Während ich mich in die Szenerie träumte, erspähte ich einen direkten Weg hinunter ins Tal. Ich war hin- und hergerissen zwischen der Freude, eine Abkürzung gefunden zu haben und dem Frust, einen völlig unnötigen und übertrieben strapazierenden Umweg gegangen zu sein. Die Freude überwog und so war ich binnen kürzester Zeit wieder dort, wo ich einst herkam: An den Thermalbädern in Abanotubani.

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So viel gesparte Energie muss ausgegeben werden, also ging ich weiter hinunter ans Kura-Ufer und traf dort einen Kompagnon aus Berlin, der mit mir am Flughafen in der Schlange stand. Unter Männern reicht ein kurzes anerkennendes Nicken, um sich zu erkennen zu geben und unsere Wege trennten sich erneut.

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Staatskrise

Irgendwann entsann ich mich meiner noch offenen Schulden beim Staat Georgien und suchte eine der empfohlenen Banken. Auf dem Weg dahin fiel mir eine Polizeistation auf und wo, wenn nicht dort, wird einem geholfen bei Fragen rund um Bußgeld, Gefängnis und Georgien-Verbot?! Der erste Beamte sprach kein Englisch, doch die hilfreiche zweite Beamtin nahm sich meines Vergehens an und erklärte mir, dass es sich bei dem Delikt um eine Staatsangelegenheit handelt, sie jedoch für die städtischen Belange zuständig seien. Ich solle es doch bei einer Bank versuchen. Staatsangelegenheit? Habe ich jetzt eine weitere Staatskrise ausgelöst?

Wie dem auch sei, also trottete ich wieder aus dem Revier heraus und fand ziemlich schnell eine Bank. Dort wurde mir gesagt, dass ich tendenziell bei ihnen richtig sei, doch die Automaten nicht funktionieren, aber ich es bei der TBC-Bank – ja, die heißt wirklich so – versuchen soll. Die TBC-Bank entpuppte sich als Automat, der Zahlungen zahlreicher Delikte und jeglicher behördlicher Art zulässt. Auto anmelden, Versicherungen kündigen, Spenden abgeben, Wohnsitz anmelden. Und eben auch Bußgelder bezahlen.

Ich suchte mir Hilfe bei einem Einheimischen, der sich wild durch die hunderten Möglichkeiten touchscreente, um zur richtigen Option zu gelangen. Dabei spielten wir beide eine Art Memory, denn er navigierte durch das georgische Menü und unser beider Aufgabe war es nun, sich zur dritten Unterebene des englischen Menüs zu hangeln. Irgendwann gelang dies und wir fanden die Option „Bußgeld bezahlen“.

Eingabe der Personalausweisnummer: Check.
Eingabe der Vorgangsnummer: Check.
Eingabe der Telefonnummer: Uncheck.

Denn es gab nur die Möglichkeit der Eingabe einer georgischen Telefonnummer. Diese habe ich nicht und es gab keine Möglichkeit, eine außergeorgische anzugeben. Also musste dieser Vorgang abgebrochen werden, ich packte den Zettel wieder in die Hosentasche und laufe nun immer noch sündig und schuldgefühlig durch Tiflis.

Wandertag im Freizeitpark

Hinter meiner Dachterrasse erhebt sich majestätisch ein Berg namens Mtatsminda. Zumindest heißt das Viertel dort oben so. Darauf befestigt sieht man von unten einen überaus präsenten Fernsehturm, das Ende zweier Seilbahnen sowie des Nächtens allerlei Licht. Was liegt also näher, als den Berg zu erklimmen? Natürlich nicht mit dem Fuhrwerk, sondern mit bloßer Kraft der Waden.

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Doch der gute Wanderer benötigt zunächst Energie, um das steile Teil zu erklimmen. Also ging der erste morgendliche Gang nach Canossa, eine Cabanossi holen. Daraus wurde nichts, aber zwei alte Hausmütterchen gaben mir etwas mit, was noch mehr Tinte auf den Füller gab: Zwei mit frisch gewolftem Hack gefüllte Knusperteigröllchen, eine ein Meter lange gefaltete Lage Käse umhüllt mit Blätterteig, sowie eine Art mit Vanillecreme gefülltes Eishörnchen. Alles triefte vor Fett. Normalerweise die perfekte Voraussetzung für einen vorgezogenen Vormittagsschlaf. Doch ich musste das Matterhörnchen besteigen!

Also schnürte ich die Schuhe und begab mich zunächst in Richtung Basiscamp Pantheon. Auf dem hügeligen Weg dorthin tat ich meine gute Tat des Tages und fungierte als Art Sherpa für einen älteren Herrn, dem ich seine Einkaufstüten abnahm. Und lernte zum Abschied mein erstes georgisches Wort: „Madloba“.

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Die Serpentinen hinauf zum Pantheon wurden fehlerfrei, aber mit tüchtig Schweißflecken erklommen. Doch der harte Aufstieg stand noch bevor: Zwei Kilometer Treppen mit einem unmöglichen Trittmaß. Schlau, wie der Georgier ist, hat er zur Motivation den letzten Stufen Namen gegeben: 120, 119, 118, 117, … 65, 64, 63, 62, … 29, 28, 27, 26, … und irgendwann war ich am Gipfelkreuz in Form des besagten Fernsehturms. Und überrascht, dass sie drumherum einen Freizeitpark errichtet haben. Inklusive Riesenrad, Kuscheltierschießbuden, Achter- und Geisterbahn, Wasserrutsche, Labyrinth, Spiegelkabinett und und und.

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Es mag Nebensaison sein oder aufn Freitagnachmittag ist den Menschen nicht nach Unterhaltung. Denn alle Geschäfte fristeten ein trauriges Dasein und die Budenbesitzenden flehten sichtlich nach Kundschaft. In mir fanden sie es leider nicht. Doch ich fand einen Standseilbahnfriedhof, wo früheren Vehikeln die letzte Ehre erwiesen wurde.

Ein kurzer Check auf GoogleMaps ergab, dass von dort ein Wanderpfad zum Turtle Lake startete – ein einmaliger Aussichtspunkt über die nördlichen Ausläufer Tiflis’ mit Blick in Richtung Karpaten. Der Sonne dämmerte es allmählich, langsam andere Teile der Welt bestrahlen zu wollen, also kam ich nur zu einem anderen Aussichtspunkt, der jedoch mit einem mindestens ebenbürtigen phänomenalen Blick belohnt.

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So, dann bist du nun 300 Meter über Stadt und musst irgendwie zurückkommen. Option 1: Seilbahn plus 20 Minuten Fußmarsch nach Hause. Option 2: Standseilbahn in 20 Minuten plus 10 Minuten Heimweg. Option 3: Das Seil um die Hüften und den Abstieg wagen. Ich entschied mich für Option 3 und war flinken Schrittes nach 30 Minuten und mit weichen Knien wieder daheim. Aß einen georgischen Salat mit Kebab im Tanini, bei dem ich mittlerweile das zweite Mal einkehrte, rügte augenzwinkernd den Kellner Nika für das Skippen von Nine Inch Nails‘ „Closer“, erntete dafür ein Schmunzeln von ihm und Applaus von einem anderen Gast und ging anschließend meiner täglichen Routine nach, für den EU-Beitritt Georgiens zu demonstrieren.

Was war denn nochmal mit den Schulden beim Staate Georgien?

Eine berechtigte Frage von Ihnen als geneigten Lesenden, der ich am nächsten Tag nachgegangen bin. Auf meinem Streifzug in den Norden der Stadt kam ich zufällig an einem Gebäude vorbei, das den Schriftzug TBC trug. TBC? Das sagt mir doch was! Ihnen auch noch? Richtig, es war die Gebäude gewordene Dependance der Automaten, an denen ich meine Schulden tilgen wollte, aber nicht konnte. Also ging ich hinein, schilderte mein Anliegen und wo ich endlich meine 80 Lari latzen könne. „Das ist ganz einfach, entweder am Schalter oder am Automaten. Sie brauchen nur die Vorgangsnummer, die Personalausweisnummer und Ihre Telefonnummer.“„Perfekt, Danke. Und was mache ich, wenn ich keine georgische Telefonnummer habe? Denn der Automat akzeptiert nur georgische.“„Oh, das weiß ich auch nicht, aber ich hole mal meinen Kollegen.“

Der Kollege riet mir, auf die staatliche Gebühreneinzugszentralenwebseite zu gehen; dort finde ich alles. „Nein, da war ich schon und dort muss man sich einloggen. Ich kann mich aber nicht registrieren mangels Telefonnummer.“ – „Oh, das wusste ich nicht. Aber hier gibt’s ne Hotline, wo man sich hinwenden kann.“ – „Haben die auch ne E-Mail-Adresse? Und warum braucht man eigentlich eine Telefonnummer?“ – „Nein, eine E-Mail-Adresse haben die nicht. Du brauchst die Nummer, damit du eine Bestätigungs-SMS bekommst. Hast du keinen georgischen Freund, der eine Nummer hat?“ – „Nein, ich hab hier nur meine kuddelige eSIM, die nur Daten kann, aber keine Anrufe oder SMS.“ – „Hm, dann weiß ich auch nicht. Aber ich geb dir mal eine Adresse, wo du dich hinwenden und direkt vor Ort bezahlen kannst.“

Und so bin ich nun im Besitz einer weiteren Adresse und hoffe, dass die mein Geld haben wollen. Es bleibt spannend, bleiben Sie dran.

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Spieltach!

Warum begebe ich mich überhaupt gen Norden, wo es doch das vermeintlich meiste Sehenswerte im Zentrum gibt? Nun, es ist Samstag und demnach Spieltach! Aus irgendeinem Grund landete ich morgens auf der Webseite von Dinamo Tiflis und stellte mit Erstaunen fest, dass der Verein heute Heimspiel hat. Da ich sowieso das alternative Viertel Tiflis’ besuchen wollte, war der Weg zum Stadion auch nicht mehr weit. Doch der Reihe nach.

Das Viertel rund um die „Fabrika“ wurde beschrieben als eben das alternative, wo sich Künstler mit kleinen Galerien, Musiker in Proberäumen, Modeschaffende mit Boutiquen und Freischaffende mit, äh … Projekten niederließen. Und genau das fand ich auch vor. Ein überaus reizvolles Quartier mit abgeranztem Schick, viel Kunst am Gemäuer und oberlippenbebärtete Männer in beigem Trenchcoat und ockerfarbener Beanie.

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Kurz vor dem Stadion stellte sich auf einmal reges Treiben ein. Die Straßen wurden breiter, der Verkehr hektischer, die Straßen gemüsiger. Ich war auf einmal auf einem Basar. Dem Dezerter Bazaar, wie ich herausfand: Ein „geschäftiger Markt für Obst und Gemüse, vielen Gewürzen und bunten, handgemachten Kerzen“. Kerzen fand ich nicht, aber dafür betriebsames Treiben rund um Waren, die uns die Natur schenkt.

Mein Zeitplan ließ keinen ausgiebigen Einkauf zu, denn ich hatte ja noch etwas vor. Es schlug 15 Uhr, zwei Stunden bis Anpfiff. Am Stadion angekommen suchte ich das Kassenhäuschen, fand aber nur ein Fitnessstudio, eine Näherei, ein Fachgeschäft für Damenmode, einen Laden für Feuerwerk und einen Fanshop von Dinamo Tiflis. Die dortige Verkäuferin sagte mir, dass es Tickets nur online gibt und tippte auch gleich die richtige URL in mein Telefon ein. 5 Lari für die Haupttribüne, umgerechnet 1,60 EUR. Kann man mal machen. Und so war ich nach wenigen Minuten stolzer Besitzer eines Tickets für das Spitzenspiel der 1. Georgischen Liga: Dinamo Tiflis gegen Dinamo Batumi. Dinamo!

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Ich bin nicht so bewandert mit den Gepflogenheiten eines Stadionbesuchs, erst recht nicht in Georgien, also wollte ich nichts falsch machen und begab mich eine Stunde vor Spielbeginn an meinen Platz, ausgestattet mit einem Bier und einem Hot Dog – ganz so, wie es sich gehört. Ganz mittig, ganz oben. Und stellte fest, dass ich nahezu der einzige Gast in einem Nationalstadion war, welches Platz für 55.000 Menschen birgt. Um es abzukürzen: Zu Spielbeginn waren etwa 300–400 Menschen da, niemand trug Schal, Trikot oder dergleichen und außer einem zögerlichen Di-Na-Mo zweier Fans gab es nicht viel Berichtenswertes. Ach ja, das Spiel ging 1:1 für Dinamo aus. Und so begab ich mich durch die Tifliser Nacht wieder nach Hause – natürlich nicht ohne meine tägliche Ration georgischen Salats mit Walnuss-Pesto und Khinkali.

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Tour de Georgia

Doch der sportlichen Aktivität sollte nicht genug sein. Während ich am nächsten Morgen auf meiner dekadenten Dachterrasse saß und den morgendlichen Kaffee in den Körper goss, hörte ich von der Straße laute Musik und einen Animateur, der Menschen lautstark unterhielt. Es war erstaunlicherweise kein Verkehr zu hören, die Allee war leer – ab und an flitzte jedoch ein Fahrrad auf dem Rustaveli Boulevard entlang. Eine kurze Recherche ergab, dass heute der Tbilisi Cycling Cup ist. Als passionierter Tour de France- und Vuelta-Gucker durfte ich mir das Spektakel natürlich nicht entgehen lassen, zog die Radlerhose an und den Helm auf und ging an die Rennstrecke. 

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Auf Tauchgang

Nach so viel Passiv-Sport in den vergangenen Tagen wurde es nun Zeit für etwas Aktives: Ich ging Tauchen. Eintauchen in das Leben der Tifliser. Ich wollte wissen, wo sie wohnen, wie sie leben, was sie tun. Und fand prächtige Häuser, die offenbar über die Jahrzehnte immer weiter auf- und umgebaut wurden, organisch wuchsen, aber zumindest äußerlich die besten Jahre hinter sich haben. Erstaunlich war, dass es bei nahezu jedem Haus einen offenen Eingang sowohl zum Treppenhaus als auch zum Innenhof gab, der einen guten Blick hinter die Fassade gab. Hier eine angebaute Außentreppe, dort eine zusätzliche Loggia, da ein kleiner Weinstrauch. Sie haben es sich muckelig gemacht.

Und gerade weil die Häuser grau und verfallen wirken, versprühen sie einen unglaublichen Charme. Sie sind nicht künstlich herausgeputzt, sondern ehrlich, reif, erwachsen. Und man sieht jedem Haus seine Geschichte an.

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Das Kontrastprogramm gab es am Gudiaschwili-Platz. Ein Platz, der offenbar in den letzten Jahren mehrere Termine im Kosmetikstudio hatte: Bunte Fassaden, geputzte Hauseingänge, üppige Oleanderpflanzen rund um einladende Restaurants. Doch wenig Charme und beliebig austauschbar mit anderen Städten.

Das zieht sich ebenfalls in das Viertel Abanotubani. Es ist wie im Disneyland. Man kennt das aus anderen Orten, an denen sich Touristen ballen: TukTuks, Kühlschrankmagnete, Karikaturenzeichner, Weinbars, Original-original-Küche wie bei Muttern, laminierte Ausflugstipps von windigen Händlern, Wechselstuben, geduldige Freunde von Content Creators, die von ihrem Model das hundertste Foto vor der Ziegelwand machen, weil das Duckface noch nicht perfekt ist.

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Doch wenn man aus der schönen unperfekten Welt mit grauen bröckligen Fassaden, dem Geruch nach modrigem Keller, ehrlichen Bars mit perfektem Kaffee für 80 Cent und in friedlicher Eintracht umherstreunenden Katzen und Hunden kommt, ließ es mich sagen: Da lob ich mir das Unperfekte!

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Raus aus den Schulden

Es ist Montag und zunächst stehen Behördengänge auf dem Plan – wie man das eben so macht, montags. Also ging ich zur Public Service Hall, in der die zentrale Verwaltung von Tbilisi untergebracht ist. Unter anderem auch die Bank of Georgia, denen ich nun gemäß des Mitarbeiters der TBC-Bank – Sie erinnern sich – meine Schulden überreichen wollte. Der freundliche Schalterbeamte nahm sich meines Anliegens an, verstand, dass ich keine georgische Telefonnummer habe und riet mir, mit meinem Schuldschein die örtliche Polizeibehörde aufzusuchen, die mir dann eine neue Vorgangsnummer gibt, welche aus der Staatssache dann eine Stadtsache macht und ich den Bums auch ohne Telefonnummer zahlen kann. 

Auf meine Intervention, dass ich dort schon war und sie mir sagten, sie können da nix machen und ich solle damit zu einer beliebigen Bank gehen, die mich wiederum zur TBC-Bank schickten, die mich wiederum zur Bank of Georgia schickten, kam ihm offenbar noch eine Blitzidee: Man könne an deren Automaten bar bezahlen; dann würde die Telefonnummern-Geschichte umgangen. Also ging ich mit meinen übrig gebliebenen Euro zur Wechselstube, ließ mir die noch fehlenden Lari auszahlen und schritt glücklich zurück zum Angestellten. Mit souveränen Screentouches war der Vorgang binnen weniger Minuten erledigt, ich 81 Lari ärmer, aber dafür nun schuldenfrei! Darauf einen gebackenen Fisch.

Es könnt‘ alles so einfach sein …

Ich wohne fast direkt an der Shota Rustaveli Avenue, die Prachtstraße Tiflis’. Bislang bin ich sie nur auf einem kurzen Stück zum Restaurant Tanini und dem Freiheitsplatz abgelaufen und desöfteren unterquert. Ja, unterquert. Denn es gibt auf der gesamten Allee keine einzige Ampel.

Möchte man als Fußgänger auf die andere Straßenseite, hat man entweder eine ordentliche Portion Mut, Kleingeld oder nutzt die Unterquerungen. Warum Kleingeld? Ich lernte, dass man die Straße als Fußgänger nicht überqueren dürfe und Zuwiderhandlungen eine Strafe nach sich ziehen. Da ich nicht wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollte, nahm ich also die Unterführung.

Und diese lohnen einen Besuch allemal, denn wie es auch im osteuropäischen Raum üblich ist, finden sich dort allerlei Läden für Waren des täglichen Bedarfs: Handyhüllen, Kittelschürzen, Stofftiere, Kreuzworträtsel- und Schmuddelhefte, Plastikblumen, Goldschmuck aus echtem Messing, und und und. 

Mein Plan war, den Boulevard auf deren 1,5 Kilometer Länge abzulaufen. Doch wie es so ist, entdeckt man hier eine spannende Ecke, biegt dort ab und findet sich auf einmal ganz woanders wieder. Jedenfalls war ich irgendwann am Heldenplatz inmitten Autobahnkreiseln und einem direkt auf die Schnellstraße mündenden Fußweg. Eine Situation, die ich hasse, aber immer wieder passiert, wenn man einfach drauf los läuft: Irgendwann landet man in einer Sackgasse und muss zurückkehren. Doch das ist Teil der Reise und ohne dessen hätte ich wohl niemals das trostlose Riesenrad, den Bettler auf der Autobahn oder weitere interessante Wandgemälde kennengelernt. Dornige Chancen, wie man in libertären Kreisen sagen würde.

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Auch der Rückweg entpuppte sich anders als geplant und ich konnte erneut nicht die Allee entlang flanieren. Denn es taten sich abermals neue Welten auf: Hinter der beeindruckenden Mtatsminda Park Cable Car Station öffnete sich ein Viertel, was meine Neugierde weckte: In die Zeit geratene Häuser, kleine Gassen, über Jahrzehnte gewachsene Strukturen.

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Irgendwann kam ich an mir bekannte Ecken und verspürte das Verlangen nach Granatapfelsaft. Den bekommt man hier an jeder Ecke frisch gepresst und es wurde Zeit, dass ich diesen nun auch zu mir nehme. Also ging ich zur erstbesten Dame und gab meine Bestellung auf. Nebenan erspähte ich eine Auslage mit Tschurtschchela, die ich hier auch überall gesehen, aber nie gegessen habe. Ich opferte mich und bestellte eine von der Verkäuferin empfohlenen Sorte. Nun, was soll ich sagen? Der Saft war erwartet köstlich und was dieser an Säure verbarg, machte das Tschurtschchela an Süße wieder wett.

Erst danach googelte ich, worum es sich dabei handelte und zitiere hierfür die Wikipedia: „Tschurtschchela ist ein georgisches Konfekt, das als Dessert gegessen wird. Es handelt sich um Walnüsse oder Haselnüsse, die in der klassischen Form mit einer Traubensaft-Kuvertüre überzogen sind. (…) Die Nüsse werden zunächst an einem Faden aufgezogen, verknotet und mehrmals (acht- bis zehnmal) in eine süßsaure Kuvertüre aus Pelamuschi, eingekochtem Traubensaft mit Stärkemehl ohne Zucker, getaucht. Danach werden sie zum Trocknen an die Sonne gehängt. Anschließend müssen sie zwei bis drei Monate reifen. Nach der Reifung ist das Konfekt weich und mit einem feinen Zuckerstaub bedeckt, der aus der Kuvertüre nach außen getreten ist.“ – und jetzt wundert mich nichts mehr.

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Gismen

Nach einem kurzen Plausch auf der Dachterrasse meines Apartments mit den neuen Gästen aus Pakistan kam der kleine Hunger auf. Ich hatte gar keine Lust auf Restaurantessen, auch nicht auf das Tanini, denn dort war ich ja schon mehrere Male. Doch der Pragmatismus, die Faulheit, die Überfüllung alternativer Restaurants und der Appetit siegte und ich ging wieder hin.

Es sollte ein Abend mit Folgen sein. Ich war der einzige Gast und die Bedienung Nata begrüßte mich zunächst mit einem herzlichen „Du warst gestern schon da, richtig?“. Natürlich. Später erfuhr ich, dass ich in Erinnerung blieb, weil ich offenbar der einzige freundliche Gast war und im Gegensatz zu anderen lächelte. Ein Hoch auf meine gute Kinderstube. Danke Mama. Danke Papa.

Take me to church

Da ich an dem Abend der einzige Gast bleiben sollte, ging ich irgendwann zu Nata an den Tresen, wir kamen ins Gespräch über das Leben in Tbilisi, über das Reisen und andere Städte, über Kunst und Musik und verwandelten irgendwann das Tanini in einen Beatclub französischer Chansons. Dazu wurde Tschatscha gereicht und nachdem das letzte Lied verklungen war, verabschiedeten wir uns und ich ging in den Supermarkt noch zwei Bier für meinen angedachten Ausklang auf der Terrasse zu holen. Denkste.

Denn auf dem Rückweg traf ich Nata wieder und sie schlug vor, noch zu ihrer Freundin Eka zu gehen, die eine kleine Bar in der Nähe betreibt und offenbar berühmt für ihre Hot Dogs ist. Keine 5 Minuten später saßen wir in einem klitzekleinen Kellerlokal im Hinterhof bei halbsüßem Wein und trafen zu den Klängen von Britney Spears den weltreisenden Engländer Harry, der heute erst aus Aserbaidschan ankam und seit 8 Monaten die Welt bereist. Doch irgendwann muss jeder Abend enden. Denkste.

Ein „Magst du Street Art und hast du Lust, die Stadt bei Nacht kennenzulernen?“ schlug ich natürlich nicht aus und auf einmal befanden sich Nata und ich auf einer Sightseeing-Tour zwischen aus Brückenpfeilern wummernden Underground-Clubs, einem Freiluftmuseum der Tifliser Geschichte, künstlerisch-bemalten Unterführungen nebst halbfunktionstüchtigem Klavier und persönlichen Hidden Spots, wo Nata meist zeichnet oder sich inspirieren lässt. Stets patrouilliert von umherlaufenden zutraulichen Hunden. Madloba!

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Und so überwarf ich am nächsten Tag alle meine Pläne und verbrachte diesen lieber mit Café, Avocado-Toast und Gesprächen im Tanini am Tresen und weiß nun viel mehr über die georgische Geschichte, das Leben, den Alltag, die Sprache, das Alphabet und die Schimpfwörter, als ich in weiteren sieben Tagen hätte aufnehmen können. Und durfte zudem eine wunderbare Person kennenlernen.

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Und wie ist Tiflis nun? 

Ich durfte eine Woche hier verbringen und fand eine sehr liebenswerte und geheimnisvolle Stadt vor. Tiflis ist nicht gefällig und will und wird auch nicht jedem gefallen.

Es ist stattdessen eine natürliche Schönheit, die sich nicht unnötig herausputzt. Sie ist ungebügelt, ungeschminkt, ehrlich. Sie ist unfassbar facettenreich, unfertig, reizvoll, rauh, modern, und pflegt die Tradition. Es ist eine Stadt, die man entweder mag oder nicht. Mir gefällt das Ursprüngliche, das Schiefe, das Unperfekte, das Aufrichtige.

Mich beeindrucken Begegnungen mit Menschen voller Geschichten und Gesten und warmen, bezaubernden Lächeln.

All das fand ich. Die Omis in der Garküche, die genauso gut Englisch wie ich Georgisch sprachen, aber wir trotzdem gemeinsam feixten und uns verstanden. Eka im Amazing Nook, die als warmherzige und interessierte Gastgeberin auftrat und Wein und Bier spendierte – unter der Maßgabe, dass ich wiederkomme und dann ihre Hot Dogs probiere. Die Verkäuferin des kleinen Ladens, in dem ich täglich einkaufte und die traurig guckte, als ich vor der Abreise mit meinem Koffer in ihrem Laden stand. Tatia, deren kluger und bissiger Humor mich trotz nur einer kurzen Begegnung häufig zum Lachen bringen ließ. Und allen voran Nika und Nata, die mich mit ihrer aufrichtigen offenen Art so herzlich aufgenommen haben und das Tanini zu einer nahezu vertrauten Heimat innerhalb der Stadt werden ließ.

Ich habe meine Außenstände beim Staat Georgien beglichen. Aber ich habe noch ein paar offene Rechnungen bei neuen Freunden und Bekannten. Also muss ich nochmal wiederkommen. Ganz bald.

Madloba Tbilisi! 💄❤️

2 Comments

  1. Conny 26. Oktober 2025

    Die lange Lesezeit hat sich durchaus sehr gelohnt..
    Ein wunderbarer Artikel, der uns wieder so richtig mitgenommen hat in die vielseitigen Aktivitäten und Erlebnisse von Dir in der einen Woche.
    Und er zeigt, dass Du mit Sicherheit in Balde wieder dorthin reisen wirst und die neu gefundenen Bekannten aufsuchen willst. Jetzt weißt Du ja auch, was man u.a. nicht machen sollte * lach *
    Danke fürs Teilhaben, immer wieder schön zu lesen, wie und wobei Du Dich so richtig wohlfühlst.

    LG die hippe

  2. Olaf 26. Oktober 2025

    Was für eine Erlebnisreise hier geschildert wird, mit Eindrücken der ganz besonderen Art und Geschichte.
    Anekdoten an der Botschaft lassen schmunzeln.
    Staatsangelegenheiten und Bürokratie.
    Letzte Treppenstufen, die das Erklimmen erleichtern sollen.
    Nette freundliche Menschen kennengelernt und die gute Kinderstube gezeigt.
    Alles im Allem, Geschriebenes und Fotos sehr schön kombiniert.
    Ich glaube, ein weiterer Besuch, das Widerkommen, lässt nicht lange auf sich warten.
    Dankeschön, daß wir in dieser Form an einer erlebnisreichen Woche teilhaben durften.

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