Fernweh in Pandemiezeiten
Wir haben es nicht leicht. Seit mehr als einem Jahr dürstet die Gesellschaft danach, endlich wieder Urlaub in El Arenal, Lloret de Mar oder Phuket zu machen, um am Strohhalm des lustvollen Urlaubssafts zu nuckeln. Geht nicht. Is nich. Reiseblogger und Influencer haben sich derweil die letzte Enklave des möglichen Fernwehs gesucht, in der noch Like-Milch und Story-Honig fließt: Dubai. Di. Ba. Du.
Doch wie vertreibt sich der Nicht-Influencer von Welt die Zeit, wenn er sich nicht Stäbchen in das rechte Nasenloch schieben lassen möchte oder (noch) keine der 3 Gs erfüllt?
Warum ich mich in einer fremden Stadt wohler fühle…
…als in der eigenen.
Ich saß heute in „meinem“ Park in Berlin, hatte die Klassik-Playlist im Ohr, roch den Herbst und sinnierte. Zwei Bänke weiter saßen drei Herren, hörten lautstark Led Zeppelin und Motörhead, so dass es meine Jazz Suite No. 2 übertönte, sie übten sich in der Jonglage von Keulen und eigentlich war es eine perfekte Situation, eine Geschichte zu schreiben. Dennoch kam in mir eine gewisse Gleichgültigkeit auf. Und ich dachte weiter. Warum das so ist.
Einfach nur leiwand
Im Pratergarten prasseln mittlerweile die Kastanien von den Bäumen. Es riecht nach herabfallendem Laub, aufgeweichtem Boden, frisch gerösteten Maronen. Ich kam im Sommer nach Wien und ging im Herbst. Dazwischen lagen keine drei Wochen. Und jetzt sitze ich im Railjet, der mich in 8 ½ Stunden wieder in Berlin ausspuckt. Zeit für ein kleines Resümee.
Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen?
Als ich mich kürzlich mit einem alten Bekannten traf – Sie wissen schon – berichtete dieser mir, wie er vor über 20 Jahren nach Wien gekommen ist. Er lief bei Nacht durch die Stadt und hörte diesen Gassenhauer von Rainhard Fendrich. Es war um ihn geschehen und er wollte nicht mehr weg. Fendrich als Einstiegsdroge, interessant. Ich wollte auch diesen Rausch, also flux das Mixtape von Klassik auf Fendrich gewechselt, Kopfhörer eingestöpselt und rein in die Nacht.
Das morbide Wien
„Der Tod, das muss ein Wiener sein“, heißt es in einer Textzeile des Wienerlieds von Georg Kreisler. So wird dem Wiener ein gewisser Hang zur Morbidität nachgesagt und da ist es nicht verwunderlich, dass sich mit dem Zentralfriedhof eine der größten Friedhofsanlagen Europas in der Stadt befindet. Circa drei Millionen Verstorbene liegen dort begraben – ein Drittel mehr als in der Stadt heute Lebende und etwa die Hälfte aller Wiener, die je gelebt haben.
Davon keine Geringeren als die Haute Volée der Komponisten (Beethoven, Strauss, Brahms, Schubert), Musiker und Künstler (Curd und Udo Jürgens, Falco, Theo Lingen) sowie der ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten.
Das moderne Wien
Als ich das erste Mal in Wien war, hat mich sogleich der stilvolle Mix aus Klassik und Moderne fasziniert, erst recht in Sachen Architektur. In dieser Stadt findet man quer durch die Epochen alles: Barock, Gotik, Renaissance, Jugendstil, Nachkriegsmoderne. Und immer mehr moderne Architektur, sichtbar im Kleinen wie am Gasometer und im Mikrokosmos der Grätzl. Oder im Großen beim Erschließen neuer Stadtflächen. Wien wächst nach oben. Darum soll es heute gehen.
Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit auf meine Wochenkarte der Wiener Linien, die diesmal arg strapaziert wurde.
„‚Laufen‘ sag ma net. Des hoißt ‚gegangen‘.“
Ich traf mich gestern mit einem alten Bekannten auf dem Meidlinger Markt. Als wir im „Ignaz & Rosalia“ saßen, gesellten sich liebe Freunde von ihm (und die Besitzer des Cafés) zu uns und wir kamen ins Plaudern. Neben dem üblichen Smalltalk berichtete ich unter anderem von meinem Ausflug in die Weinhänge rund um den Kahlenberg und Leopoldsberg und wie schweißtreibend der Aufstieg war. Als Piefke drückt man sich offenbar etwas wohlfeiler aus, so dass ich schnell mit der berühmt-berüchtigten Wiener Sprachkorrektheit in Berührung kam. Denn mein saloppes „Ich bin zum Kahlenberg hochgelaufen“ wurde flux berichtigt in „‚Laufen‘ sag ma net. Des hoißt ‚gegangen‘.“ Selbstverständlich mit dem entsprechenden Augenzwinkern und genau deswegen mag ich sie, die Wiener. 😘