L’chaim!

Lesedauer: etwa 5 Minuten

Der Tag begann turbulent. War ich sonst immer so gegen 6:30 Uhr wach, riss mich um 8:00 Uhr Sirenengeheul aus dem Bett. Eine unmittelbare Bedrohung lag über der Stadt und das Signal bedeutete, dass sich die Bevölkerung in nahegelegene Sicherheitszonen begeben soll. Oder zumindest nicht das Haus verlassen. Dies kannte ich bereits von meinem ersten Aufenthalt und nachdem nach etwa 5 Minuten die Sirene erlosch, hörte ich zwei dumpfe Geräusche, ähnlich dessen, wenn jemand eine Autotür zuschlägt: Entweder gab es irgendwo einen Einschlag oder der Iron Dome hatte ganze Arbeit geleistet.

Glücklicherweise war zweiteres der Fall.

Denn in der Nacht hat das israelische Militär (oder der Geheimdienst, wer weiß das schon?) einen ranghohen Angehörigen des „Islamischen Dschihad“ getötet und militante Palästinenser wollten nun Vergeltung üben. Laut den Gazetten ist jedenfalls mit massiven Gegenschlägen in den nächsten Tagen zu rechnen.

Schulen wurden heute geschlossen und wer keine lebensnotwendigen Jobs zu verrichten hatte, sollte nicht zur Arbeit gehen. Bis zum Nachmittag wurden an die 100 Raketen auf das Gebiet zwischen Gaza und dem Süden Tel Avivs geschossen und es wird einem wieder bewusst, auf welchem Pulverfass man in Israel sitzt.

Und wie reagiert der Tel Avivi?

Gar nicht. Ich habe irgendwo gelesen: „Der Spruch ‚Feiere das Leben‘ (L’chaim) kommt in keiner Sprache der Welt so oft vor wie im Hebräischen“. Und genauso sind die Menschen hier: Während die Sirenen heulten wurde nebenan auf dem Balkon weiter der Morgenkaffee getrunken, am Strand sah ich aus Ferne joggende Menschen und auch sonst unterschied sich nichts von einem anderen Tag morgens in Tel Aviv.

Die einzig nennenswerten Auswirkungen auf mein Empfinden sind, dass

– die landenden Flugzeuge nicht mehr über mein Haus fliegen, sondern einen großen Bogen über den Norden machen

– Twitter durchdreht: Der Hashtag #IsraelUnderFire sowie #JIHadEnough trendeten binnen kürzester Zeit, doch meist wurden die Tweets von den Menschen abgesetzt, die gar nicht vor Ort sind.

– mehr Hubschrauber die Küste entlang kreisen als sonst

– dass das Leben – zumindest in Tel Aviv – unvermindert weitergeht. Es sind zwar Reisewarnungen ausgesprochen worden, doch irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass sich hier etwas geändert hat. L’chaim!

Ankommende Flugzeuge

Und so packte ich meine Sachen und ging hinaus in die Welt.

Heute wollte ich mal den Norden erkunden, schließlich war ich auf der Suche nach Spots, die sowohl die Skyline als auch die Ayalon Autobahn im Blick hatten – die wichtigste Verkehrsader Tel Avivs. Hindurch das jemenitische Viertel befand ich mich auf einmal im Nirgendwo zwischen der Allenby Road und dem Dizengoff Square, immer weiter gen Norden laufend.

Dizengoff Street
Bauhaus
Streets of Tel Aviv

Die Arlozorov Street einbiegend sah ich auf einem ausgehängten Stadtplan einen nahegelegenen kreisrunden Platz, den ich noch nicht kannte. Also hin da! Er stellte sich als Ha-Medina Square heraus und ist von seiner Brachialität und Brutalität von keinem Platz unterscheidbar, den ich bisher gesehen habe. Es ist der größte Platz Tel Avivs, wurde von Oscar Niemeyer gestaltet (was man unschwer erkennen kann) und es verwundert nicht, dass es der zentrale Platz der „March of the Million“ war und sich 300.000 Menschen auf der größten Demonstration Israels dort versammelt haben.

Kikar Hamedina
Kikar Hamedina

Weiter die Weizmann Street hinauf passierte ich die typischen Häuser des Tel Aviver Nordens, deren Erdgeschoss aus einer Art überdachter Aufenthaltsfläche, respektive Vorgarten inklusive Parkplatz bestehen und sich im ersten Obergeschoss erst als Wohngebäude auftun.

Endlich den Fluss Yarkon überquert konnte es nicht mehr weit sein.

Nur noch ein wenig nach Osten laufen und schon kommt man auf eine Anhöhe und kann über die Ayalon Road die Skyline von Tel Aviv und Ramat Gan erblicken. Laut Stadtplan musste es irgendwo an der Universität und dem Bahnhof Tel Aviv University sein. Jedoch habe ich die Rechnung ohne die israelischen Behörden gemacht, die dazwischen noch das Eretz Israel Museum und das Yitzhak Rabin Center bauten und demnach einen kleinen Umweg erforderten.

Institut für Energie und Brennstoff

Irgendwann war ich schließlich an einem Parkplatz, der einen seichten Blick feilbot und dachte: „Dafür bist du jetzt 8 Kilometer gelaufen?“ Doch ich erspähte eine weitere Straße, die näher an die Autobahn heranragte und nicht von Laternen, Gebäuden und Kabeln verhangen war.

Blick über Tel Aviv
Blick über Tel Aviv Skyline
Skyline Tel Aviv

Bekanntermaßen ist der Weg ist das Ziel und so begab ich mich – es dämmerte bereits – auf den Rückweg, um wenigstens noch den Sonnenuntergang am Meer zu sehen. Weit gefehlt, denn der Weg zog sich und so habe ich heute leider kein Sonnenuntergangsfoto für dich.

Sonnenuntergang
Sonnenuntergang
Sonnenuntergang
Sonnenuntergang

Ein wohlverdientes kühles Bier in einem Strandstuhl später stapfte ich nach Hause, blicke stolz auf den 14,8 Kilometer Tagesmarsch zurück und freue mich, dass der Trompeter gesund sein Liedchen bläst ohne in einem Bunker den nächsten Raketenangriff abzuwarten. L’chaim! Und ich mach mir jetzt erstmal einen Tomaten-Gurken-Salat mit Frühlingszwiebeln.

4 Comments

  1. hippe 12. November 2019

    Was für ein bewegter Tag… Liest sich wirklich gefährlich, man mag sich wirklich gar nicht weiteres denken..
    Umso schöner, dass Du diesen, so komisch begonnenen Tag, doch noch halbwegs normal zu Ende führen konntest.
    Sehr schöne Fotos übrigens wieder, mein Favorit ist das vorletzte.
    Paß auf Dich auf!

    lg die hippe

  2. Olaf Kolletzky 12. November 2019

    Wenn man den Tagesbeginn sich verinnerlicht, darf man nicht daran denken, daß Du, unser Kind, mittendrin bist. Rasenalarm und keiner weiß, was passiert…
    Aber gut zu lesen, wie Du das Alles verarbeitet hast, mit Deiner Wanderung zum Erkunden von Neuem.
    Pass gut auf Dich auf!!!

  3. […] Hatte ich sie gestern von der Einfahrt in die Stadt gesehen, war ich nun im Epizentrum des motorisierten […]

  4. […] meinem vorgestrigen Beitrag gab es vermehrt Fragen, wie es denn hier sei mit der allgegenwärtigen Gefahr, eine Rakete auf den […]

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