I 🎄 Warsaw

Lesedauer: etwa 8 Minuten

Die Zeit zwischen Neujahr und dem ersten Arbeitstag ist auch immer eine Zeit des Sammelns frischer Kräfte nach den anstrengenden Feiertagen. Dieses Jahr fiel diese Zeit dank überschüssiger Urlaubstage glücklicherweise recht lang aus, so dass ich kurzerhand beschloss, ein paar Tage in Warschau zu verbringen.

„Warschau? Warst du da nicht erst?“

Das stimmt, doch bin ich ein bekennender Fan dieser Ostblockmetropole. Und das nicht nur, weil man mit dem Zug gut und günstig in weniger als sechs Stunden von Berlin aus dort ist, sondern weil es wenige Städte dieser Art gibt, in der man Geschichte und Moderne auf so kleinem Raum trifft. Was dem Kölner sein Paris ist dem Berliner eben sein Warschau. Zudem wollte ich meine halbjährige Kenntnis der polnischen Sprache dank des Probeaccounts von Babbel in der Praxis anwenden – was, um es vorweg zu nehmen, nur bedingt gelang.

Warschau

Wind Nordwest. Endgleis 03.

Ein eisiger Westwind pfiff durch die Häuserschluchten und begrüßte mich am Fuße des Kulturpalastes. In einer Laune unbändiger Weisheit packte ich in Berlin noch eine Bommelmütze und Handschuhe ein, so dass dem Eiswindschock schnell mit Wolle und Leder getrotzt wurde. Der erste Weg ging gen Altstadt. Denn ich hatte in meinem Instagram-Feed gesehen, dass diese in ein Weihnachtswunderland getaucht sein sollte. Ein opulentes Lichtermeer säumte den Königsweg – sponsored by Ferrero Rocher – und das heimelige Gefühl von Weihnachten kam wieder auf. Toll. Und auch die Altstadt hatte mit einer neuen Attraktion aufgefahren: Eine Eisbahn inmitten des Markts.

Warschau
Warschau
Warschau
Warschau
Warschau

Rund herum gab es noch Überreste einer Art Weihnachtsmarkts, so dass ich nicht umhin kam, die gefrorenen Gliedmaßen mit einem Glühwein und einem außerordentlich delikaten Speckfettbrot wohlig zu ummanteln.

Warschau
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Warschau
Warschau

To the Nebelsee

Nebel zog auf in der Nacht und hüllte die Stadt in eine graue Suppe. Dieses Grau wollte ich in Farbe umwandeln und in Praga das Neon Muzeum besuchen. Dort werden Lichtreklamen gesammelt, die während des Kalten Krieges überall in Polen blinkten und ist neben dem Neon Museum in Las Vegas das größte seiner Art. Da sich meine Vordiplomsbachelorwasauchimmerarbeit mit dem Thema „Werbung im öffentlichen Raum“ befasste und ein nicht unwesentlicher Teil dessen auch die Auswirkungen von Leuchtwerbung auf das Stadtklima beinhaltete, musste ich dort natürlich hin. Zum Schutz des Klimas.

Warschau
Warschau
Leuchtreklame
Leuchtreklame
Leuchtreklame
Leuchtreklame

Den Weg dahin begleiteten großflächige Street Arts an Brandwänden, die typisch für den Stadtteil sind. Auch wenn Praga an vielen Stellen als aufstrebender Stadtteil für Künstler und Studenten prosperiert, gilt dies vornehmlich für den Norden (Praga-Północ). Der Süden (Praga-Południe) ist dann gefühlt doch etwas „sozialistischer“ mit nicht so schicker Bausubstanz. Und genau dort befindet sich besagtes Neon Muzeum, inmitten eines der dort noch seltenen hipsteresken Kleinods. Unschwer zu erkennen an viel Klinker, viel schwarzem Metall, Industriallook und großflächigen Signets an der Fassade.

Warschau
Street Art
Street Art
Street Art

Nach dem kleinen Ausflug in die Reise der Leuchtreklame striff ich durch den Stadtteil, um noch ein wenig Geschichte einzuatmen. Dass es in den 20er Jahren eine beliebte Gegend für Warschaus Mittelschicht war und auch der Krieg nur relativ wenig Spuren hinterließ, lässt sich an manchen Stellen erahnen. Und auch das Bestreben der Stadtoberen, dort weiteres Wohnen anzusiedeln: In wenigen Jahren soll mit Minska 69 ein völlig neues modernes Stadtquartier entstehen. Mit Blick auf eine verfallene Radrennbahn. Ich wollte durch ein kleines Loch im Zaun hinein, doch auf den Bus wartende Passanten und die eigene Schissigkeit verhinderten dies und ließen nur einen Blick von außen zu. Schließlich wollte ich meinen Geburtstag auch nicht auf einem polnischen Polizeirevier verbringen.

Jedenfalls bin ich gespannt, wie das Quartier am Ende aussehen wird – beim Vorbeilaufen fehlte mir ehrlich gesagt die Fantasie, wie sowas zwischen Bahnanlagen, industriell genutzten Flächen und wenig einladendem Umfeld anspruchsvoll-hochwertig aussehen kann. Aber wahrscheinlich lag das nur an der grauen Suppe.

Warschau
Warschau
Warschau

Apropos Suppe

Mein Magen machte sich langsam bemerkbar und dürstete nach Nahrung. So sah der kurzerhand geschnitzelte Plan vor, auf schnellstem Wege die Gleise zu überqueren – Praga wird durch die Ost-West-Verbindung zerschnitten –, den Stadtteil zu verlassen und mich auf direkten Weg in die Bier-Borschtsch-Schnitzel-Stube zu begeben. Das Straßenbild sah etwas anderes vor und Google Maps großzügig ignorierend stand ich nach etwa zwei Kilometern in einer Sackgasse. Kurz vor den Gleisen und keine Über- oder Unterführung weit und breit. Nur einsame Zufahrtstraßen zu Bauschutthalden, Autowerkstätten, verlassenen Fabriken. Und dem Stützpunkt irgendwelcher „Brothers Warszawa“. Ich google besser nicht, was das für Knaben sind.

Warschau

Wieder auf normalen Pfaden unterwegs bedankte sich die Stadt mit einem formidablen Sonnenuntergang und ich ging quer durch Praga-Nord gen U Szwejka – das Schnitzel hab ich mir aber sowas von verdient.

Warschau

Unausgetrampelte Pfade

Wenn ich eine Stadt mehrmals besuche, ertappe ich mich dabei, die aus früheren Abstechern bekannten Pfade zu gehen. So hörte „mein“ nördliches Warschau zum Beispiel immer am Neustadtplatz (Rynek Nowego Miasta) auf – keine Ahnung, warum ich nie weiterging. Ebenso war das Viertel südlich der al. Jerozolimskie, also südlich des Hauptbahnhofs ein weißer Fleck.

Nimm dir Essen mit, es geht ins Hinterland.

Diesmal wollte ich es wagen, die Grenzen zu überschreiten und neue Gebiete freizuschalten. Bei nun schönstem Winterwetter ging der Weg zunächst durch das Hochhausviertel Mirów in Richtung Süden.

Warschau
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Warschau
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Kulturpalast

Voller Übermut wollte ich nun auch die nächste Herausforderung meistern: Die Erkundung der nördlichen Innenstadt. Vorbei am Stadion Polonia Warschaus stand ich auf einmal auf dem skwer Matki Sybiraczki, einem beeindruckenden Denkmal für die im Osten Gefallenen und Ermordeten, das an die Opfer der Sowjetinvasion während des Zweiten Weltkriegs erinnert.

Warschau
Warschau
Warschau
Warschau
Warschau

Als ich weiterging, fiel mein Blick auf einen der zahlreichen Wegweiser. Die Bezeichnungen sind allesamt auf polnisch mit englischem Untertitel. Einzig ein Begriff ist auf Deutsch: „Umschlagplatz“ prangte es da in brachialer Manier. Von meinem ersten Besuch vor etwa 10 Jahren hatte ich den Ort schon des Anlasses entsprechend in schlechter Erinnerung, doch ich wollte es erneut versuchen. Und wurde wieder enttäuscht.

Dem Ort wurde ein Denkmal in einer so unwürdigen Umgebung gegeben, es ist eingefasst zwischen einem Schuhgeschäft und einem Gemeindezentrum, flankiert von einer vierspurigen Straße samt Tramgleisen. Nichts erinnert an die denkwürdige Geschichte dieses Ortes. Es wird ihm kein Raum zur Wirkung gegeben. Es steht einfach nur da, weil dort damals nun mal der Umschlagplatz war. Mehr nicht. Man mag argumentieren, dass bei Eröffnung der Stätte 1988 die umliegenden Gebäude bereits errichtet waren und daher nur wenig Platz war. Doch ein wenig angemessener hätte das Areal rund um das Denkmal ausfallen können.

Warschau
Warschau

Dennoch geht man automatisch langsamer durch die Straßen, denkt nach, auf welchen Pfaden man derzeit wandelt und welch Gräuelgeschichten der Sand unter dem Pflaster erzählen könnte.

Warschau

Zurück auf Los

Der Rückweg brachte mich zurück an den Anfang: Über die Eisbahn der Altstadt – natürlich wieder mit einem einverleibten Speckfettbrot – ging es den Königsweg zurück in mein Quartier. Die Straßen waren vollgestopft mit Menschen, in den Kirchen gab es Zeremonien, Menschen standen schlangenweise vor irgendwelchen Imbissen. Was ist denn da los? Ist es jeden Sonntag so? Ist es der freie Sonntag vor dem Tag der Heiligen Drei Könige, der in Polen ein gesetzlicher Feiertag ist? Und warum überholt mich der spazierende Pole, obwohl ich selbst schon einen flotten Schritt drauf habe, bleibt aber brav an jeder roten Ampel stehen, auch wenn die Straße noch so klein ist? Vielleicht werde ich das beim nächsten Besuch herausfinden.

Warschau
Warschau
Warschau

Und so endet mein Aufenthalt mit mehr Fragen als Antworten. Einzig der Wind hat gedreht. Er pfeift nun nicht mehr aus Westen, sondern weht mich geradewegs gen Osten. Obwohl ich doch eigentlich wieder nach Westen fahren wollte. Oder wollte mich die Anzeigetafel auf dem Bahnhof mit „Minsk“, „Białystok“ oder „Moskau“ auf etwas hinweisen?

2 Comments

  1. Olaf Kolletzky 9. Januar 2020

    Ach was für ein erfrischender Bericht, der erneut mit sehr schöner Wortwahl ummantelt.
    Danke dafür und die schönen Eindrücke per Schrift und Bild

  2. hippe 10. Januar 2020

    Mir haben Deine Zeilen natürlich auch wieder unheimlich gut gefallen. Die Fotos dazu sind einmal mehr so richtige Hingucker und lassen einen richtig mit eintauchen in Deine erlebten Tage.

    lg die hippe

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