Feierabend in Kiew

Lesedauer: etwa 8 Minuten

Was würde geschehen in einem Land, dessen Sprache du nicht sprichst, weil du sie noch nicht mal lesen kannst? In einem Land, das vom Rest der EU abgeschnitten ist, in der Außenwirkung von Krisen, Korruption und Kälte geprägt ist. Wo es kein bequemes EU-Roaming gibt, um mal schnell auf Google Maps den aktuellen Standort oder Restauranttipps zu checken. Versuch macht kluch, also buchte ich den Fluch Flug! Off to Kiev. Das Abenteuer begann.

Angekommen in Boryspil ging der erste Weg zum Geldautomaten. Nummer 1 spuckte nichts aus, also ging ich zum nächsten: „Transaction cancelled. Please contact your bank.“ stand in bedrohlich-roter Schrift auf dem Display des zweiten Terminals. Und kein weiterer Automat in Sichtweite. Ich fand in meiner Hosentasche noch einen 20 Euro-Schein, der nun darauf wartete, in Hrywnja eingetauscht zu werden. In der Hoffnung, dass man am Exchange-Schalter auch noch weiteres Geld mittels VISA-Karte eintauschen kann. Weit gefehlt. Und so stand ich mit meinen 570 Hrywnja am Ausgang und überlegte bei einer Zigarette, ob Vlad – mein Gastgeber in Kiew – recht behalten sollte, dass ein Taxi in die Innenstadt ca. 10 Euro kostet.

Während ich so überlegte und rauchte, sprach mich ein Einheimischer an, ob er auch eine Zigarette bekommen kann. „Logisch“ war der erste Impuls und ich gab seinem Kollegen gleich auch noch eine, damit die Schachtel leer ist. Ich habe nichts verstanden, aber die beiden waren sehr glücklich und gaben einer weiteren Kollegin einen Zug meiner Rothmans DoubleClick. Wahrscheinlich hatten sie zum ersten Mal das Prinzip des DoubleClicks gesehen, dass man aus einer normalen Zigarette mittels Klick einen (gewöhnungsbedürftigen) Mentholgeschmack erzeugen kann. Und so lernte ich mein erstes ukrainisches Wort: Добре! (Dobre), was so viel wie „Gut“ heißt.

Doch zurück zu meinem finanziellen Problem: Ich hatte also 570 Hrywnja und ging zum Taxistand. „Maximum 550 Hrywnja“ gab mir der Inhaber der schwarzen Kutsche zu verstehen und ich willigte ein – schließlich ist der Flughafen nur mit einem Bummelbusshuttle an den ÖPNV angeschlossen.

Vorbei an weitläufigen Kiefernwäldern auf einer achtspurigen Autobahn brachte mich die Droschke nach einer halbstündigen Fahrt durch die Großwohnsiedlungen der Vorstädte in die Innenstadt. Wow, wie mondän. Breite Magistralen wurden durch sowjetmoderne Wohnhäuser flankiert, dazwischen Bauruinen und die wohl typische Avantgarde-Architektur.

Am Zielort angekommen zeigte das Taxameter 505 Hrywnja. Punktlandung. Ich gab aufgrund der finanziellen Notsituation leider nur ein spärliches Trinkgeld und hatte somit nur noch 30 Hrywnja in der Tasche – umgerechnet etwa 1 Euro. An der Herberge reagierte zunächst niemand auf mein Klingeln. Also ging ich los, um das finanzielle Loch im örtlichen Bankensektor zu stopfen. Fehlanzeige: „Transaction cancelled. Please contact your bank.“ Dies tat ich nun, erreichte telefonisch natürlich niemanden und investierte somit mein noch vorhandes Geld in Würstchen im Schlafrock zu umgerechnet 35 Cent. Mangels EU Roaming musste ich nun mein Glück abermals an der Herberge versuchen, die mir WLAN und damit direkten E-Mail-Kontakt zu meiner Bank versprach. Dort öffnete mittlerweile jemand und ich konnte meine Karte freischalten lassen. Puh. Ich war endlich liquide.

Aus Gründen ging die Reise weiter und ich setzte mich in ein nächstes Taxi, welches mich zum Flughafen Schuljany bringen sollte. „Schul-was?“ Mit Händen und Füßen konnte ich dem Taxifahrer zu verstehen geben, dass ich zum City-Airport und nicht zu Boryspil wollte. Nach harten Verhandlungen trat er hart aufs Gas seines wahrscheinlich 30 Jahre alten Ladas. Unter dem Schutz der Ikonen, die auf seiner Armatur klebten, ging die wilde Fahrt los. Rechtsabbiegerspuren wurden zum links abbiegen genutzt, die Hupe fungierte als Instrument der Wegräumung, der erste Gang diente als Beschleunigung direkt in den vierten. Doch Fahrer und Beifahrer blieben entspannt und so waren wir trotz freitagabendlicher Rush Hour in Rekordzeit am Flughafen. Beide grinsend und anerkennend zunickend.

Wieder zurück in der Stadt dämmerte es allmählich und der Urlaub konnte endlich beginnen. Und was tut der völlig uninformierte Tourist, der das erste Mal in Kiew ist? Klar, den Majdan besuchen. Den Platz der Orangenen Revolution und der Euromaidan-Proteste. Der Weg dorthin ist umsäumt von besagten breiten Magistralen, die ein einzelner Mensch nicht imstande ist zu überqueren. Also dachte sich der schlaue Ukrainer, dass es sinnvoll wäre, den Weg dorthin mit einer unterirdischen Mall zu säumen: Der riesigen Metrograd Mall, die sich unter der Straße Chreschtschatyk Richtung Majdan paralleluniversesk entlangschlängelt und den Weg an die Erdoberfläche nur an wenigen Stellen freigibt. Hat man es einmal an die Oberfläche geschafft, wird einem fantastische Architektur offenbart.

„Während auf der Straßenseite mit den geraden Hausnummern lange und hohe Häuserblöcke dominieren, die meist administrativen Zwecken dienen, prägen auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern Wohnhäuser im Zuckerbäckerstil, das Straßenbild.“

Auf zwei Fußgängerebenen gelangt man schließlich auf den zentralen Platz Kiews. Trifft dort auf Pandabären, Gaukler, Herzluftballonverkäufer, kitschig-bunte Wasserspiele. Und kann sich dem Treiben mit einem wohlverdienten Bier hingeben. Nach einer ukrainische Schlachteplatte in Form von Borschtsch, Pelmeni, mit Speck belegten Gurkendillgrillbroten sowie gegrillter und geräuchterter Wurst und nicht erwähnenswerten Pommes war der erste Tag auch schon passé.

Der nächste Tag begann mit den besten Mandelhörnchen der Welt und einem Pfefferminztee. Die optimale Stärkung für einen Fußmarsch durch das mittlerweile trübe Kiew, welches später noch seine regenreiche Freude ob des Besuchs ausdrücken sollte. Abermals ging es zum Majdan, um von dort in alle Himmelsrichtungen auszuschwärmen. Die Sophienkathedrale mit seinem auslandenden Vorplatz wurde schnell passiert, um den Pfad jeglichem Touristischen zu verlassen. Denn außerhalb dessen taten sich wunderbare Mosaike, Street Arts und Wandbemalungen auf, die ganz zufällig im Entdecken eines Parks mündeten, der neben Bankwippen (oder Wippbänken?) einen pittoresken Blick über die Stadt feilbot. Wenn schönes Wetter gewesen wäre. Denn mittlerweile ging es leicht aber stetig darnieder.

Nichtsdestoweniger wurde dem Niederschlag getrotzt und weiter gelustwandelt. Hin zum St. Michaelskloster, über rutschiges Gefäll und einem Markt, welcher T-Shirts mit der Aufschrift „Hard Rock Café Chernobyl“ verkaufte, hin zur ersten Rast des Tages: Unerwartet leckeres Weißbier aus diesen unsäglichen Weißbiergläsern sowie erwartet leckeres gebratenes Kräuterbrot mit Mayonnaise-Knoblauch-Dill-Dip überbrückte die Zeit, die die Wetter-App zur Durchschreitung der Regensohle prophezeite. Fail. Denn es schüttete unaufhörlich. Egal. Ein Riesenrad nebst eines weiteren Platzes zog die Blicke schon oberhalb der Stadt auf sich. Ein Mütterchen begrüßte die Besucher mit lautem Gesang inmitten der Hauptverkehrsstraße und brachte zumindest etwas Leben in diese Melange aus einsam-rotierendem Fahrgeschäft und kolloseumesker Bauruine.

Weiter ging es Richtung Dnepr – ja, der Fluß des wohlklingenden Vereins Dnepr Dnepropetrowsk – mit der Erkenntnis, dass es am gegenüberliegenden Ufer einen formidablen Sandstrand gäbe, der mit dem nötigen Sonnenstand einen Abstecher wert gewesen wäre. Konjunktivismus galore. Denn dem war bekanntermaßen nicht gegeben, also wurde das unerwartet hügelige Kiew erklommen zum Denkmal der Völkerfreundschaft. Bonjour Tristesse. Ein trostloser Autoscooter wartete auf Gäste, der Breakdance hatte bis auf seine Lautsprecher seine besten Zeiten hinter sich und das Karussel fristete ein einsames Dasein hoch droben über der Stadt.

Zurück in der Zivilisation wartete ein unfassbar leckerer Hot Dog, Pfefferminztee und Bier darauf, den durchnässten Körper zu regenerieren und allmählich den Tag ausklingen zu lassen.

Vorgänge Organisieren Delegieren Zuordnen Entscheiden. Damit ging es in die Nacht und den nächsten Tag, welcher abermals mit einem Mandelhörnchen startete. Und eigentlich auch endete. Denn der Flieger ging um 13:15 und so begab ich mich bei strahlendem Sonnenschein, dem geöffneten Autofenster, ein laues Lüftchen um die Nase wehend und die Weite der Vorstädte mit seinen Betonwohnburgen genießend über die gleiche einsame Autobahn gen Boryspil. Vorbei an den Kieferwäldern hin zu dem Ort, der mich vor 48 Stunden ausspuckte.

Ich traf auf eine bezaubernde Stadt voller Freundlichkeit, Schönheit, osteuropäischer Roughness, Bemühtheit trotz Sprachbarrieren und wunderbaren Eindrücken. Und völlig verrückten Taxifahrern. Denn, Schlussklammer: Mein Taxifahrer auf dem Rückweg durfte das Flughafengelände nicht passieren, da er offenkundig keine gültige Lizenz besaß…

Spasibo Київ!

3 Comments

  1. Hippe 9. September 2018

    Dein Schreibstil.. herrlich.. du solltest Buchschreiber werden..
    Sehr leicht zu lesen. Wunderbar!
    Die Bilder.. sehr schön wie immer.
    Die “Gegend”.. auf mich sehr weit/ fast steril wirkend.
    Aber.. für dich wieder eine Erfahrung mehr.
    Danke fürs teilhaben.

    LG die hippe

  2. […] Abkürzungen genommen und nach etwa 20 Minuten Fahrt war Yaron 70 Schekel reicher. Erinnerungen an Kiew kamen […]

  3. […] ist es umso verständlicher, dass man an dieser Stelle das zweittraurigste Fahrgeschäft nach dem Autoscooter von Kiew […]

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