Einfach nur leiwand

Lesedauer: etwa 6 Minuten

Im Pratergarten prasseln mittlerweile die Kastanien von den Bäumen. Es riecht nach herabfallendem Laub, aufgeweichtem Boden, frisch gerösteten Maronen. Ich kam im Sommer nach Wien und ging im Herbst. Dazwischen lagen keine drei Wochen. Und jetzt sitze ich im Railjet, der mich in 8 ½ Stunden wieder in Berlin ausspuckt. Zeit für ein kleines Resümee.

Pratergarten
Herbst in Tschechien

Wer Wien besucht, ist jedes Mal fasziniert von der Schönheit der Stadt. Sie räumt nicht umsonst jedes Jahr den Titel als lebenswerteste Stadt der Welt ab und ich habe überlegt, warum. Die der Studie bemessenen Kriterien wie Lebensstandard, Kriminalitätsrate, Gesundheitsversorgung, Kulturangebot, Umweltsituation, Schulsystem und städtische Infrastruktur gelten gewiss als wichtiger Gradmesser für die Bewohner – die ja auch wesentliche Adressaten für das Prädikat „lebenswert“ sind. Doch diese Kriterien sind für den temporären Besucher der Stadt ja nur zu Teilen greifbar und man fühlt sich trotzdem sofort wohl. Was ist es dann? Ist es, weil die Stadt einfach nur schön ist? Und wenn ja, was ist dieses „schön“ überhaupt?

Es ist geordnet, herausgeputzt, ordentlich. Ja, nahezu fertig. Als SimCity 2000 Bürgermeister würde man nun dazu übergehen, Arcs zu bauen, weil alles drumrum schon erledigt ist. Eine hochmoderne Infrastruktur trifft auf barocke Umgebung. Funktionalität gepaart mit Stil. Doch das trifft es noch nicht umfänglich.

Gasometer
Belvedere

Wien ist Metropole und dennoch überschaubar. Es ist überschaubar und dennoch mit viel Raum zur Entfaltung. Es bietet Raum zur Entfaltung und ist dennoch mit einem Charme an Traditionen behaftet. Es ist traditionell und dennoch selbstbewusst, weltoffen und nach vorne gewandt. Es ist zukunftsgerichtet und dennoch stilvoll. Es bietet Eleganz und ist dennoch mit allen Facetten einer Weltstadt ausgestattet. Es ist Metropole und dennoch überschaubar. […]

Ich denke, es ist die Wiener Melange (höhöhö!) aus vielem, das die Stadt so lebens- und liebenswert macht. Ob die Donau, der Schmäh oder die Oper. Ob die Friedhöfe, die Ringstraße oder die Märkte. Ob die Weinberge, die Künstler oder die österreichische Lebensart. Ob der Sitz zahlreicher Institutionen, Sissi oder das Prater-Riesenrad. Ob die üppigen Parks, das Tor nach Osteuropa oder die Kaffeehauskultur: Jeder hat ein imaginäres Bild vor Augen, wenn man an Wien denkt. Und das alles wird geboten. Eine klassische Wien-Wien-Situation für Besucher und Stadt.

Zentralfriedhof Wien
Donau City
Wienerberg City
WU Campus, Wien
Blick vom Kahlenberg auf Wien
Weinberge in Wien

So eine Phase außerhalb der heimischen Umgebung trägt auch völlig neue Blüten zutage. Denn die Stadt lädt förmlich dazu ein, den Schritt langsamer werden zu lassen. Eher zu schreiten als zu rennen. Den Blick schweifen zu lassen. Inne zu halten. Ähnlich verspürte ich es in Karlovy Vary und wahrscheinlich liegt das wirklich an der mondänen Umgebung bzw. das, was sie im Kopf macht.

Und im Grunde war es ebenso ein großer Test, den ich hier durchführte. Nachdem ich meinen geregelten 9-to-6 Job Anfang September aufgeben musste, wollte ich ausprobieren, als Digitalnomade ortsunabhängig zu arbeiten. Um es vorwegzunehmen: Es klappte wunderbar. Ich nutzte den Vormittag für Termine, Telefonate und wichtige To Do’s, nahm mir dann meist Zeit zur freien Verfügung, eh ich mir abends ein sündhaft teures Steak zubereitete (selten!), Klassik auflegte (häufig!) und bei einer Weißweinschorle – bitte sagen Sie jetzt nichts! – die restlichen Aufgaben des Tages erledigte. Carpe Wien. In Wieno Veritas.

Carpe Wien

Steile Thesen, die ich außerdem noch gelernt habe

Meide den 1. Bezirk
Der Wiener geht offenbar nicht in den 1. Bezirk, also die Innere Stadt. So sagte man mir. Und irgendwie auch nachvollziehbar, denn außer touristischen Highlights gibt es dort wenig, was man als Einheimischer besuchen sollte. Wo ich gerade so darüber nachdenke: Bis auf einen kurzen Streifzug war ich in den drei Wochen auch kein einziges Mal richtig dort. Wahrscheinlich bin ich auf dem Weg, auch schon Wiener zu werden.

Karlskirche
Ich habe tatsächlich kein einziges Foto vom klassischen 1. Bezirk gemacht, daher muss die Karlskirche stellvertretend herhalten. Es tut mir leid.

Überlege, wann du welches Donaukanalufer besuchst.
Am Donaukanal trifft sich die Jugend und die After Work Class zum Feierabendgetränk. War ich an einem Abend da, war zu meinem Erstaunen das nördliche Ufer reich bevölkert. Schließlich hatte ich am südlichen Ufer mehr Bars, Schiffe, Clubs verortet, die jedoch diesmal völlig verwaist waren. Beim nächsten Mal ging ich also weltgewandt zielstrebig ans Nordufer. Tote Hose. Und wieso tummeln sich gerade so viele Menschen auf der südlichen Seite? Hinter das Geheimnis bin ich immer noch nicht gekommen, aber vielleicht liest ja hier ein Wiener mit, der mich aufklären kann. Und wenn ich dich schon mal hier habe: Gibt es einen Grund, wieso „der Wiener“® ungern mit den Beinen Richtung Wasser baumelt, sondern eher parallel zur Uferkante sitzt?

Donaukanalufer

Zum Wein anstoßen sagt man „Mahlzeit“
Auch wenn die Meinungen auseinander gehen – ich fragte drei Einheimische in einer repräsentativen Studie, die allesamt etwas anderes sagten, aber intensive Recherchen haben es verifiziert: Wenn man den sog. „Sturm“ – hierzulande unter Federweißer bekannt – trinkt, sagt man nicht Prost oder zum Wohl, sondern schlicht „Mahlzeit“. Savoir Wienvre.

Weinberge in Wien

Märkte sind der Place To Be
Ob der Meidlinger Markt, Karmeliter Markt, Naschmarkt und wie sie alle heißen: Auf diesen Plätzen wird sich nicht nur mit Waren des täglichen Bedarfs eingedeckt, hier wird gelebt. Ob die kleine Rentnergemeinde zum Frühschoppen, der Student mittags zum Frühstücken, die Rommé-Damen zum nachmittäglichen Kaffeeklatsch, die Familien zum gemeinschaftlichen Abendessen, die Nachtschwärmer zum Kauf von Zigaretten: Zu jeder Tag- und Abendzeit findet man Menschen jeglicher Couleur. Und alle haben etwas zu erzählen.

Markt

Radweg kreuzt Fußweg kreuzt Radweg
Dass sich die Stadt zunehmend auch der Fahrradgemeinde öffnet, ist außerordentlich lobenswert. Doch bitte mit mehr verkehrsplanerischem Geschick. So ist es nicht unüblich, dass sich Fuß- und Radweg auf einer geraden Strecke zwei Mal ohne erkennenswerten Grund kreuzen. Da hilft es auch nicht, gemischte Zonen als „Fairness Zonen“ auszuweisen.

Fairnesszone

Drei Wochen hatte ich nun Gelegenheit, in diese Stadt einzutauchen und ein bißchen ihren Alltag mitzuerleben. Ich habe eine vielseitige, gefällige, lebhafte und dennoch entspannte Stadt kennengelernt, die trotz (oder durch?) ihrer bemerkenswerten Historie eine weltoffene, liberale und freundliche Metropole ist. Alle Menschen, die ich traf – von Bekannten, Freunden, meiner Vermieterin, der Friseurin (ja, ich habe mir sogar den Wiener Coiffeurtalk mit dargereichtem Käffchen gegeben), Kneipiers, über den Obdachlosen, den ich auf einen „Sturm“ einlud bis zum einfachen Würstelstandverkäufer – waren durchweg offen, zuvorkommend, außerordentlich freundlich und angenehm. Oder um all die zahlreichen Adjektive in einem Wort in der Landessprache zusammenzufassen: Leiwand.

Denn eine Stadt, in der die Straßenbahn „Bim“ heißt und es für Hunde „Sackerl für dein Gackerl“ gibt, kann man nur lieb haben. Auf Wienersehen!

Auf Wienersehen

3 Comments

  1. Hippe 2. Oktober 2020

    Wunderschön geschrieben..
    Man merkt wirklich, dass du dich dort sauwohl gefühlt hast.
    Zum Glück ist Wien jederzeit recht schnell erreichbar, also durchaus zu ermöglichen..

    LG die hippe

  2. Olaf 2. Oktober 2020

    Herrlich diese Rhetorik.
    Wunderbar geschilderte Erlebnisse jeglicher Art, Menschen aller Genres kennengelernt.
    Einen neue Arbeitsstil ausprobiert und Gefallen daran gefunden.
    Fragen über Dinge der Stadt sich gestellt…
    Alles im allem, es war den geschilderten Eindrücken zufolge ein Erlebnis sondersgleichen, gepaart mit vielen gesammelten neuen Erfahrungen.
    Dankeschön, daß wir auf diese Art teilhaben könnten.

  3. Carmen 11. Oktober 2020

    Hallo Markus,

    Ich muss mich jetzt endlich mal für deine wunderbaren Berichte über Deine Erlebnisse bedanken. Du könntest Buchautor werden und hättest riesigen Erfolg.Dein Vater gibt immer Info, wenn es was Neues zu lesen gibt.
    Mach weiter so….Dankeschön

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