Auf einen Raki nach Tirana
Es ist Donnerstagmorgen, eine Müsli-Schale steht vor mir und während ich motivationslos darin herumrühre, kommen mir Gedanken: In wenigen Stunden bist du in einer völlig anderen Kultur, kannst kein Wort der Landessprache, kennst nahezu nichts von deinem Ziel und in 76 Stunden bist du wieder zurück.
Es fühlt sich völlig normal an. Wie ein bevorstehender Spaziergang durch den Kiez. Wie ein Ausflug ins Grüne. Wie ein Picknick. Dann stelle ich fest, dass die Normalität nicht normal und mir in diesem Moment viel zu wenig bewusst ist, was mir als mittelaltem weißen Mann möglich ist. Sich nämlich – nachdem ich mein Müsli aufgegessen habe – in ein Flugzeug zu setzen und einfach so in ein anderes Land zu reisen. Ohne Sorgen. Dafür mit umso mehr Neugierde. Und der Gewissheit, erfahrungsreicher wieder zurückzukommen in mein gemachtes Nest. In mein sicheres Land. Ein guter Gedanke.
Also schnappe ich meinen Koffer und werde die Bordkarte gegen einen Fensterplatz nach Tirana einlösen.
Përshëndetje Tirana!
Als verwöhnter EU-Reisender ist die Aus- und Einreise mit einigen leicht überwindbaren, aber dennoch nervigen Hürden verknüpft, die einem die großen Errungenschaften einer Europäischen Union ohne Grenzen immer wieder – und erst recht in diesen fragilen Zeiten – aufweisen. Das zeigt sich u.a. an Passkontrollen. Das zeigt sich u.a. an Fremdwährung, die man umständlich tauschen, abheben bzw. umrechnen muss. Das zeigt sich u.a. an fehlenden Roaming-Vereinbarungen.
Und so komme ich in der einen Hand mit meinem Ausweis, in der anderen Hand mit einer albanischen eSIM in meinem Telefon und mit 5.000 Lek in der Hosentasche am Flughafen Tirana an. Welche sich gleich um die Hälfte dezimierte, nachdem der Taxifahrer seine Rechnung am Zielort präsentierte. 2.500 Lek ärmer und mit einem albanischen Wort im Wortschatz reicher, bin ich nun in der unbekannten Stadt. Faleminderit (ist doch total eingängig, oder?).
Über den Dächern Tiranas öffnet sich die Terrassentür und gibt einen dekadenten Blick frei auf eine unerwartet hochbebaute und -bekrante Innenstadt. Na, ich bin ja mal gespannt auf den nächsten Tag.
Der Morgen begann mit einer wiederentdeckten Leidenschaft für die Pistazie, die sich in zerkrümelter Form als Haube eines Donuts präsentierte und darauf wartete, unter Darreichung eines Kaffees vertilgt zu werden. Warum ist das überhaupt so einer unnötig ausschweifenden Erzählung wert? Nun, denn im Folgenden geschah in den nächsten sechs Stunden nichts weiter Berichtenswertes. Ergiebige Sturzbäche ergossen sich über der Stadt, die knöcheltief hohe Pfützen produzierten und die Straßen in Klein-Venedig verwandelten. O sole mio.
Den Wettergott mit Raki besänftigen
Gegen 15 Uhr war es dann so weit. Der Regen begann von draschförmig auf Niesel zu wechseln und zwei Herren machen sich auf, den Hunger nach Hunger und den Hunger nach Stadt zu stillen. Der wilde kulturelle Mix spiegelte sich nicht nur in der Speisenofferte wider – auch das Stadtbild verspricht, was es bereits von oben hielt: Moderne Architektur neben sozialistischer Baukunst. Katholische Kathedralen neben orthodoxen Kirchen des Balkans, während der Muezzin zwei Straßenecken weiter lautstark zum Gebet bittet. Und zwischendrin wuselt der Verkehr um wild gestikulierende Polizisten herum, die geordneten Verkehr predigen.
Eine ähnlich geistliche Fügung war es offenbar, dass sich besagte Herren just am Pazari i Ri Markt befanden, als der Wasserdrang sowohl von oben als auch von innen stärker wurde. Unter dem Schutzmantel einer traditionellen Taverne wurde Gleiches mit Gleichem bekämpft. Auge um Auge. Raki mit Raki. Und es zeigte Wirkung. Der Wettergott hatte ein Einsehen und entließ seine Pilger trotz feuchter Kehlen wieder trockenen Fußes nach Hause. So wurde es zumindest überliefert.
Dosenpfirsiche am Skanderbeg-Platz
Augen auf bei der Wahl des Apartments. Und lange blieben diese auch nicht zu. Denn am nächsten Morgen durchflutete endlich die wärmende Oktober-Sonne die Glaspyramide und trieb Mensch auf die Straße. Natürlich nicht ohne den vorherigen Verzehr von Pistaziengebäck!
Vorab: Tirana hat nicht die opulentesten Sehenswürdigkeiten zu bieten, die es mit anderen Hauptstädten aufnehmen kann. Vielmehr ist es die Stadt selbst, die eine Reise lohnt. Und betrüblicherweise habe ich viel zu wenig Ahnung von der Geschichte Albaniens, um an dieser Stelle fundiert über die sich prägenden Auswirkungen Auskunft geben zu können.
Zentraler Punkt ist der Skanderbeg-Platz, der sich wunderbar als Ausgangspunkt eignet, auszuschwärmen. Schließlich ist er übertrieben weitläufig und abschüssig in alle Richtungen. Vor allem Richtung Süden, wo man Zeuge des Einflusses der Herrschaft von Enver Hoxha wird. Am markantesten sticht hier die „Pyramide von Tirana“ hervor, welche mittlerweile jedoch vielmehr von Instagram-Influencern beherrscht wird.
Doch auch den Prachtboulevard Dëshmorët e Kombit entlang kann man ein wenig erahnen, wie es sich vor nicht allzu ferner Zeit dort lebte. Faschistoide Bauwerke, Mahnmale, Bunker und Gedenktafeln zeugen von dunklen Zeiten.
Sie merken, dass mir bei diesem Thema die Worte nicht so gut von der Hand gehen, daher nun wieder zu den erfreulichen Angelegenheiten.
Unweit des Boulevards hat sich der Albaner eine neue Restaurant- und Shopping-Mall gebaut. Und praktischerweise in der Mitte noch Platz gelassen, um dort einen Rasen mit angeschlossenen Sitzplatztribünen zu errichten, wo fortan nicht nur die albanische Fußballnationalmannschaft ihre Spiele austrägt, sondern auch trockene Kehlen in der VIP-Lounge ihren Durst stillen.
1000 Lek wechselten im Tausch gegen zwei Pale Ale die Besitzer und nachdem alles fein säuberlich verklappt wurde, ging es anschließend über Hipstermärkte zu Magnetresonanzen, nicht vorhandenen Statuen und Schabernack treibenden türkischen Eisverkäufern in Richtung des Corpus Delictis des Vorabends. Der Pazari i Ri Markt.
Gewürze, Kräuter, Tabak, selbstgebrannter Raki in Plastikflaschen, Militaria, selbstgestrickte Wollsocken, Pfeffermühlen, Balkan-Techno. Alles, was mein Herz in dem Moment nicht begehrte, wurde auch nicht gekauft. Dafür aber ein Pfannkuchen (manche sagen dazu auch Berliner, Krapfen oder Siedegebäck aus süßem Hefeteig) mit 500 Gramm Nussnougatcremefüllung und seitdem überlege ich, ob ich mir nicht auch einen Freestyle Libre 3 Sensor anbringen sollte.
Sie fragen sich jetzt sicher zurecht, warum in der Überschrift etwas von Dosenpfirsichen stand, aber dies bislang keine weitere Erwähnung fand. Das bedarf es auch nicht. Es sei denn, Sie sind großer Fan davon. Dann gehen Sie bitte zurück auf den Skanderbeg-Platz, suchen einen Food Truck und finden genau das zum Sofortverzehr in der handlichen Snack-Schale: Dosenpfirsiche. Dosenpfirsiche!
Und jetzt mal Zucker auf den Pfirsich: Wat sachste zu Tirana?!
Ich habe eine Stadt kennenlernen dürfen, die sich mir nicht ganz erschlossen hat. Der allgegenwärtige kulturelle Mix bestimmt die Stimmung und das architektonische Stadtbild: Faschismus, Kommunismus, Sozialismus, europäische Moderne und weitere Relikte überwundener Zeiten. Dazwischen eine Moschee. Eine orthodoxe Kathedrale. High Class Restaurants neben ursprünglichen Grillstuben. Informelle Ökonomien.
Es gibt einen zentralen Platz, der durch seine schiere Größe beeindruckt (und mit Dosenpfirsichen!), jedoch kein klassisches Stadtzentrum, keine westeuropäischen Handelsketten, keine Flaniermeile, keine Prachtbauten.
Ich habe mich selten so schwergetan, mir auch nur einfachste Worte zu merken (oder können Sie mir eine Eselsbrücke zu Mirëdita, Mirupafshim oder Faleminderit bauen?).
Und vielleicht ist es gerade dieses Ungewöhnliche, dieses Ungewohnte, was diese Stadt so unfassbar reizvoll macht. Ishte e jashtëzakonshme, Tirana!
Epilog: Auf der Rückreise fielen am Flughafen außergewöhnlich viele Männer mit einem verbundenen Kopf auf. Waren sie gestern beim Fußball? Ist die Hool-Szene größer als gedacht? Waren es vorgezogene Ergebnisse der Proteste? … doch dafür waren es zu viele.
Beim genaueren Betrachten entdeckte ich kleine rote Punkte auf der gesamten Kopfhaut und mir wurde klar: Albanien scheint auch eine Hochburg der Haartransplantation zu sein. Ja, Vielfalt will auch auf dem Kopf vorhanden sein.
Da können ja die zwei betagten Herren froh sein, dass sie keine solche Kopfbedeckung benötigen, um irgendwas zu vertünchen..
Aber für die paar Stunden, und dann noch schlechtem Wetter, habt ihr doch gut was erlebt. Der Artikel liest sich wieder einmal sehr amüsant.
Lg die hippe
Ach wie erfrischend wieder beschrieben…
Reisen ohne Sorge, jedoch die Umstellung zur EU.
Entdecken einer Baukunst, die Seinesgleichen in der Mannigfaltigkeit sucht, eine Mall mit Rasen und Tribüne.
Beeindruckend beschrieben der letzte Abschnitt „Wat sachste…“
Auch wenn’s kein Vergleich mit bisherigen Reisen war,so doch sicher eine positive Wirkung hinterlassen hat.
Danke für Deine Eindrücke, die die beiden Herren erlebt und Du niedergeschrieben hast, mit exklusiver Wortwahl.