Auf der Suche nach dem Rubensdiamanten: in Antwerpen
„Zugbindung aufgehoben.“ ist eine Pushmitteilung, die man vor Antritt einer Reise mit mehreren Umstiegen und einer voraussichtlichen Ankunft zu nachtschlafender Zeit nicht unbedingt lesen möchte.
Dennoch scheute ich das Risiko nicht und stieg in einen Zug, der mich von Düsseldorf nach Köln, von Köln nach Brüssel und von dort weiter nach Norden bringen sollte. Denn es geht für ein paar Tage in die Diamantenhauptstadt der Welt: nach Antwerpen. Bling-bling. Ich kannte Belgien bislang aus der Scheibe eines Reisebusses nach London irgendwann in den 90ern und einem Zwischenstopp auf dem Flughafen Brüssel. Es galt also für mich als Transitland – Zeit, dies zu ändern.
Um nicht in den gefälligen Tenor des Bahn-Bashings einzusteigen, behaupte ich an dieser Stelle, dass alles zur pünktlichsten Zufriedenheit verlief, die Abendsonne mich durch wunderschöne Landschaften begleitete, und ich sogar einen weiteren Haken auf der Architektur-Bucket-List – dem Bahnhof Liège-Guillemins – machen durfte.
Sportliche vier Minuten Aufenthalt in Brüssel ergaben einen schnellen Städtepunkt, eh es weiter auf die letzte Etappe ging. Und das stilecht, wie man es in einem Vorstadtzug erwartet: mit der musikalischen Beschallung einer überdimensionierten Boombox durch die belgische Jugend. Doch nicht, wie Sie jetzt denken, mit flämischem Gangster Hip-Hop. Sondern mit: Ludovico Einaudi.
Majestätischer Empfang
Unter diesen bedeutungsschweren Klängen gondelte ich also die nächste halbe Stunde weiter nach Antwerpen und meine nicht ohnehin geringen Erwartungen wurden weiter angeheizt. Was hat man nicht alles von der Stadt gelesen und gehört? Zentrum des weltweiten Diamanthandels. International bedeutender Seehafen. Wiege der Rubensfrauen.
Ein majestätischer Bahnhof empfing mich und ich konnte es kaum erwarten, im Hotel einzuchecken und mit einem kühlen Stella Artois die kommenden Tage einzuleiten.
An der Rezeption habe ich den Fehler gemacht, die Concierge mit einem freundlichen „Bonsoir“ zu begrüßen, was sie natürlich zum Anlass nahm, mich in ebendieser Sprache willkommen zu heißen. Nachdem jedoch mein eingerostetes Schulfranzösisch ziemlich schnell aufgebraucht war, musste ich ihr zu erkennen geben, besser weiter auf Englisch zu reden. Pas de problème.
Da das Hotel recht zentral gelegen ist, war es ebenso kein Problem, gleich in die Stadt einzutauchen und erste Eindrücke zu sammeln. Sammeln tun die Belgier übrigens auch gern, nämlich Müll. Zumindest dienstags. So war es für mich als Recycling-Kartoffel äußerst überraschend, dass sämtliche Haupt-, Pracht-, Repräsentations- und Nebenstraßen mit gefüllten weißen Müllbeuteln gesäumt waren. Der erste Kratzer an dieser königlichen Stadt.
Also brach ich an dieser Stelle den ersten Spaziergang ab, um mir die Überraschung für die kommenden Tage aufzuheben – schließlich war es auch mittlerweile 0:30 Uhr.
Abbruch und Wiederaufnahme
Am überschwänglichen Verzehr des Dosenbiers kann es nicht gelegen haben, dass der nächste Tag mit unerträglichen Kopf- und Gliederschmerzen begann (und endete). Vielmehr sorgte wahrscheinlich die Klimaanlage dafür, mich den Tag nur behände wie ein Mittsiebziger fortbewegen zu können und um 21 Uhr einzuschlafen.
Offenbar ergriff über Nacht Benjamin Button von mir Besitz, denn aus den Federn sprang am nächsten Morgen ein taufrischer Haile Gebrselassie, der bereit war, die gesamte Stadt an einem Tag zu umkurven.
Der erste Gang führte mich zum Bahnhof Antwerpen-Centraal, als Viertschönster der Welt ausgezeichnet und einer der Gründe, warum ich die mir bislang völlig unbekannte Stadt Antwerpen überhaupt besuchen wollte. Wie eine Kathedrale thront er am Rande der Innenstadt und hielt, was er mir auf Bildern vorher versprach. Doch sehen Sie selbst und geben Sie ihm geeignete Adjektive.
Nach so viel Opulenz war ich nun bereit, mir weitere Herrschaftlichkeiten zu geben. Herrschaftszeiten. Auf dem Weg dahin kommt man zwangsläufig auf die Meir, die prächtige Einkaufsstraße, welche direkt ins Herz der Stadt führt. Der Shoppingtrieb wurde in mir nicht geweckt, aber ich investierte mein Sondervermögen in das hiesige Waffelgeschäft! Schließlich sind die Belgier nicht nur immer die Geheimfavoriten im Fußball, sondern auch für ihre weltberühmte Waffelschmiede bekannt.
Über unter Wasser
Nachdem der Import in den Magen vollzogen wurde, ging es auf nicht mehr nachvollziehbaren verschlungenen Pfaden in Richtung Wasser, zur Schelde. Der Fluss wird vom Sint-Annatunnel durchbohrt, und das schon seit über 90 Jahren. „Ein Tunnel unter einem Fluss, ok. Aber was ist daran besonders?“ werden sich die Hamburger Lesenden nun fragen. Aber habt ihr auch Holzrolltreppen in euren Elbtunnel hinunter? Nee, ne? Wir in Antwerpen schon! So. #instantwerp
Die Schelde ist übrigens auch Zubringer zum zweitgrößten Containerhafen Europas (nehmt dies, Hamburg! ♥) und aus mir unerfindlichen Gründen Anleger zahlreicher Flusskreuzfahrtschiffe. So war es mir ein Anliegen, einen dieser Anleger für dankbare Fotomotive zu nutzen und mich verbotenerweise an ein Pier zu legen.
Bei der Konsultation einschlägiger 10-Dinge-die-du-in-Antwerpen-sehen-solltest-Webseiten stieß ich auf die Information, das „Museum aan de Stroom“ zu nutzen, um auf dem Dach einen gratis Blick über die Stadt zu erhalten. Zudem sah es architektonisch wertvoll aus und war demnach bereit, von mir begutachtet zu werden. Ein kleiner Tipp, falls Sie dort auch hinwollen: Nehmen Sie ein Vileda-Fenstertuch mit, denn die Absprungrückhaltescheiben könnten arge Spuren von Nasen (und anderweitigen Körperfettabdrücken) enthalten.
So weit oben im Norden ist der Weg auch nicht mehr weit zum nächsten architektonischen Highlight: Das Haus der Hafenbehörde samt des von Zaha Hadid entworfenen neuen Gebäudeteils auf dem Dach. Die Fassade ist dem Schliff eines Diamanten nachempfunden und glitzert ähnlich in der Sonne, wie die mittlerweile 15 Kilometer gewanderten Schweißperlen auf meiner Stirn.
Doch es gab niemanden, dem ich ein wehleidiges „Lass mich zurück“ zuhecheln konnte und es galt, den gestrigen Ruhetag aufzuholen. Also warf ich eine Dose Spinat in meine Schnellladesäule und war so weit, meine übrig verbliebenen Fähnchen auf Google Maps einzusammeln. Eines davon war der Grote Markt, der zentrale Platz, um den ich bislang immer einen Bogen schlug.
Diamonds Are a Girl’s Best Friend
Letzte Station auf der großen Hafenrundfahrt durch Antwerpen-City sollte das Diamantenviertel sein.
Die Diamantenhauptstadt. Was stellt man sich darunter vor? Mondäne Straßenzüge, glitzernde Schaufenster, streng bewachte Läden. Sugar-Daddys in Nadelstreifen, die ihren silikonbebusten Konkubinen eine glitzernde Gefälligkeit tun wollen.
Vielmehr befindet sich das Areal im Bahnhofsviertel und genau so sieht es auch aus. Diamanten, Brillanten, Smaragde (man möge mir meine Unwissenheit verzeihen) aus aller Welt funkeln um die Wette mit dem goldenen M aus Amerika. 50.000-Euro-Ringe werden neben Kiosken angeboten, die Dosenbier für 1 Euro verkaufen. 5-Karäter liegen eine Auslage weiter zu 5-Euro-Brätern aus dem 1-Euro-Shop.
Und auch wenn die eigentlichen Geschäfte im benachbarten Handelsplatz samt Diamantenbörse gemacht werden, strahlt die Umgebung sehr viel Understatement, Unerwünschtheit und „Wir machen unsere Milliarden-Deals lieber diskret“ aus. Je länger ich darüber nachdenke, umso nachvollziehbarer ist es.
Jetzt mal Butter auf die Waffel: Wie ist Antwerpen?
Ich kam mit sehr hohen Erwartungen. Wahrscheinlich zu hohen. Durch den weltberühmten Diamantenhandel und den Seehafen vermutete eine multikulturelle und extravagante Stadt mit viel Bling-Bling. Herausgekommen ist eine ganz normale multikulturelle Stadt mit einem majestätischen Bahnhof und einer beliebigen, aber gefällig-adretten Altstadt. In Michelin-Sternen ausgedrückt gibt es 1 Stern: Eine Stadt voller Finesse – einen Stopp wert!
Wie bekomme ich nun trotzdem ein abschließend wohliges Gefühl vermittelt?
Bewaffelt stieg ich in den Zug, um die nächsten 8 Stunden nichts anderes zu tun als abermals den Bahnhof Liège-Guillemins anzusabbern, den Brüsseler Städtepunkt wieder einzusammeln, auf der Domplatte auf den Anschlusszug zu warten und durch das wunderschöne Bergische Land weiter gen Berlin zu fahren.
Merci bien und bedankt, Antwerpen! ♥
Einer der ganz typischen Markus-Reiseberichte, die wir so sehr lieben.
Silikonbebusten Konkubinen.. wunderbare Wortwahl..
Lg die hippe
Die gesammelten fotografischen Erinnerungen sind wieder in eine außergewöhnliche Wortwahl zelebriert, die seinesgleichen sucht.
Sehr schön geschrieben und beschrieben die Eindrücke zu einer Stadt, die wunderschöne und architektonische Kostbarkeiten zu bieten hat.
Danke für diese Einladung nach Antwerpen.