Warum ich mich in einer fremden Stadt wohler fühle…

Lesedauer: etwa 3 Minuten

…als in der eigenen.

Ich saß heute in „meinem“ Park in Berlin, hatte die Klassik-Playlist im Ohr, roch den Herbst und sinnierte. Zwei Bänke weiter saßen drei Herren, hörten lautstark Led Zeppelin und Motörhead, so dass es meine Jazz Suite No. 2 übertönte, sie übten sich in der Jonglage von Keulen und eigentlich war es eine perfekte Situation, eine Geschichte zu schreiben. Dennoch kam in mir eine gewisse Gleichgültigkeit auf. Und ich dachte weiter. Warum das so ist.

Als Mensch, der das Privileg und die Freiheit besitzt, ungehindert beinahe alle Länder dieser Erde bereisen zu dürfen und einige wenige davon auch schon gesehen hat, genieße ich normalerweise solche Augenblicke und versuche, diese auch am Ende des Tages für mich zu konservieren oder auf diesem Blog in Worte zu fassen. In dieser Situation wäre es mir jedoch egal, wenn ich mich nicht bewusst darauf eingelassen hätte. Coniunctivus absolutus.

Wien

Rückblick: Vor zwei Monaten kam ich nach Wien, lief los und befand mich irgendwann an der Karlskirche. Ich setzte mich auf eine Bank, nahm die Stimmung auf und beobachtete. Ein älteres Ehepaar, was ihr Picknickkörbchen auspackte und im Abendrot Abendbrot aß. Pärchen, die engumschlungen Selfies machten. Eine Gruppe junger Menschen, die bedosenbiert das Leben genossen. Fotografen, die die perfekte Symmetrie einfangen wollten. Also landläufig betrachtet das völlig normale Leben einer Stadt.

Doch es fühlte sich anders, besonders, exklusiver an.

An diese Situation entsann ich mich heute. In einer anderen Stadt ist man erstmal fremd. Man kennt nicht die ungeschriebenen Gesetze, den Habitus der Einheimischen. Man wartet ab, ob andere über die rote Ampel gehen. Man antizipiert, ob man „Grüß Gott“, „Hallo“, „Hi“ (oder in anderen Fällen „Sveiki“ oder „Shalom“) sagt. Logisch. Man schaut, ob andere auch im Park ein Dosenbier trinken. Man ordnet sich einfach ein, um nicht aufzufallen und am normalen Leben teilzuhaben.

In Berlin ist das anders: Ich bewohne die Stadt seit 20 Jahren, kenne die Menschen und deren Gepflogenheiten.

Hold for Follow Me or RTF Instructions
St. Pauli Nachrichten

Ich kenne die Stimmung. Das Roughe. Die Schönheit. Die Egalität, wie man den Menschen gegenübertritt. Niemand schaut sich mehr in die Augen. Es interessiert niemanden, wenn jemand anders aussieht oder man skurrile Situationen beobachtet. Allen ist alles egal. Es ist egal, wie es um einen herum aussieht. Man muss sich selbst verwirklichen, das ist das was zählt. Und man selbst stellt sich in den Mittelpunkt und wird dabei völlig beliebig, austauschbar.

Daher erwische ich mich dabei, Berlin einer Egal-Haltung abzugewinnen. Sehe ich in fremden Städten an jeder Ecke spannende Geschichten und Entdeckungen, ist mir dieses Besondere an Berlin zunehmend abhanden gekommen. Ich bin abgestumpft.

Ich wünsche mir, dieses Gefühl des Spannenden, Unerwarteten, des besonderen Flairs wieder zu erhalten. Wie es in jeder anderen Stadt der Fall ist, in der ich neu bin. Hallo, Berlin.

Hermannplatz

One Comment

  1. Hippe 16. November 2020

    Wunderschön… Und ja.. besinne dich, wie schön irgendwie unsere Heimat ist, wenn auch anders….

    Man muss wirklich ab und an inne halten.. gerade in der jetzigen Zeit…

    LG die hippe

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